Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Wie innen…
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In Santiago trafen wir Sev wieder, um zusammen auf der Ladefläche eines Pick-Ups oder – mein Herz tat einen freudigen Sprung und Blasen der Erinnerung stiegen wie dicke Tränensäcke meine Luftröhre entlang nach oben – in einem Tuk-Tuk! zum Festival selbst zu fahren.
Ja. Hier gibt es Tuk-Tuks. Und sie sind rot.
Davor aber erzählte ich den beiden in einer ruhigen Minute von dem Unwetter und der Finsternis, die nun schon ein gutes Stück näher gerückt war.
Wie dem auch sei, vor dem Jahreswechsel war sowieso nichts mehr zu machen, also hatte ich vor, zunächst einmal das Festival zu genießen und alles weitere danach in die Wege zu leiten.
Ich fühlte mich denn auch dazu in der Lage, denn selbst wenn mir widrige Sturmwinde des Schicksals durch mein Bewusstsein geistern, so habe ich sie bisher wie auch jetzt stets als von etwas Höherem bestimmt annehmen können.
Gewiss wallen in solchen Augenblicken Gefühle auf und verursachen womöglich einen leicht ziehenden, wülenden und paradoxerweise beinahe angenehmen Schmerz, doch liegt darin verwoben auch allzumal Hoffnung, Zuversicht und, wenn ich vollkommen ehrlich bin, eine gewisse Spannung, ein Gefühl des Aufbruchs – von Abenteuer.
Jede Veränderung bringt Furcht, Unsicherheit und Beklommenheit mit sich, doch sie hat auch ihren ganz eigenen Reiz.
Denn in der Veränderung liegt auch immer die Chance, dass sich etwas zum Guten wandelt. Und selbst wenn zu diesem Zweck der Tod höchstselbst an eine nah gelegene Türe klopft, so hat mich diese Tatsache bis zum heutigen Zeitpunkt nie dem zehrenden und vernichtenden Schmerz der Trauer und des Verlustes anheimgegeben.
Vielleicht weil ich instinktiv spürte, dass der Auftritt des kalten Gevatters weder schlimm noch endgültig ist, sondern einfach nur ein weiterer Weg, eine weitere Schleuse, die sich auftut hin zu einer völlig anderen, großartigen und unfassbaren Reise.
Aber noch war es nicht soweit.
Bereits einen Tag vor Beginn des Festivals fanden wir uns auf dem Gelände ein, da wir uns als Freiwillige gemeldet hatten, um in den kommenden Tagen zwei Arbeitsschichten zu schieben, was den Ticketpreis von obszönen 160 Dollar auf einen erträglichen Unkostenbeitrag von 20 verringerte.
Die mögen ja non-profit, nachhaltig, umwelt- und regionalbewusst sein, aber an ihrer Preispolitik müssen sie definitiv noch arbeiten, denn sie verlangten von allen Teilnehmern zusätzlich noch deftige Park- und Aufbewahrungsgebühren für Autos und Gepäck, duschen durfte man sich für verhaltene 2,50 USD. Zunder genug für einigen Unmut unter den Festivalbesuchern.
Aber von meiner Seite damit hat es sich dann auch mit der schnöden Kritik. Der Rest war nicht von dieser Welt. Mit der Location fängt es schon mal an:
Baumbestandene Wiesen, frisch von Hand gemäht, erstreckten sich direkt am Ufer des Sees unter steilen Hängen; derselbe Vulkan, den ich bereits von Panajachel aus erblicken durfte, entbot mir auch hier, und um einiges näher und persönlicher, seinen Morgengruß.
Einziger Wermutstropfen war, dass man nicht in den See hüpfen konnte, da er von Abwässern aus der Region vergiftet und am Umkippen war, weil wieder irgendein Schlaumeier auf die grandiose Idee verfallen war, eine neue Raubfischart dort einzuführen, die sich fröhlich durch die angestammten Fischbestände fraß und damit das ganze ökologische Gleichgewicht durcheinander brachte.
Was das Ganze noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ein derart ignorantes und arrogantes menschliches Versagen mich nicht einmal mehr überrascht.
Auf den gemahten Wiesen gab es also eine Psy Trance-Stage, die aussah wie ein vor einem Elektro-Altar gelandetes Ufo, des weiteren ein wirres Ensemble aus Bast und Bambus, das ich nur als riesenhaften Asterixhelm bezeichnen kann, mit teilweise etwas behäbigeren, dafür aber umso experimentierfreudigeren DJ‘s sowie eine meist verlassene Live-Stage, deren zeitweilige Besitzer mir schon etwas leid taten.
Ummadum gab es Essens- und klimprige Kunsthandwerkerstände, Feuerstellen, Tipis, Jurten und Zelte für Ausstellungen und Workshops über Permakultur, Kakaozeremonien, Channelings, Te Mazcal-Rituale, Baumwipfelyoga, Networking, Osho-Atemtechniken und ähnlich verrückte Dinge, dazwischen viel Platz für allen möglichen Unsinn und unmöglichen Sinn.
Eine lupen- und astreine Expo für das kommende Wassermann-Zeitalter, und man kann sich darüber freuen oder schreiend davon laufen, je nach Facon.
Energien und Gedanken sprühten, tanzten, fielen in sich zusammen, erstanden neu, vereinigten und trennten sich, spielten, litten, starben und wurden wiedergeboren unter dem wachsamen Auge der Berge.
Ich hatte Glück, denn meine beiden Schichten fielen sogleich auf die ersten zwei Tage, und somit hatte ich den Rest des Festivals und über Neujahr frei.
Der erste davon war eher körperbetont; zusammen mit einem bärtigen Belgier schleppte ich Holzbalken und Eisenstangen von ihrem ehemaligen Einsatzort zu einer Lagerstätte, die sich auf einem ausgedienten Tennisplatz befand.
Derartige Tätigkeiten gefallen mir durchaus: Hirn aus, Körpersäfte an, kurbeln und schwitzen. Das tut gut und fegt das Stübchen frei.
In der zweiten Hälfte meiner Schicht durfte ich die anreisenden Lebenskünstler und Herolde einer neuen Ära in die richtigen Warteschlangen bugsieren, damit sie sich nicht in ihren Gewändern und diversen unheimlichen Utensilien untereinander verhedderten.
Das war gar nicht so einfach:
„Trittst Du auf?“ – „No.“ – „Bist Du Volontär?“ – „No.“ – „Wie, Du bist einfach nur so da?“ – „Yep.“ – „Hast Du ein Ticket?“ – „Yep.“ – „Welche Online-Plattform hast Du benutzt?“ – „Que?“
…Das hatte fast schon was von einem Behördengang an sich – nur mit Seifenblasen und an der frischen Luft.
Ich jedoch war zufrieden, hatte ich doch so Gelegenheit, einigen müden ankommenden Geistern das erste dankbare Lächeln ins Gesicht zu zaubern; beinahe wie an der Rezeption in einem Hostel. Dergestalt bekam ich auch einen ersten Eindruck von den durchgeknallten und herrlich abgespaceten Klamotten und der Fülle an Variationen unterschiedlichsten Körperschmucks.
Die Luft roch verdächtig nach süßlichen Kräutern, schon seit gestern Nacht waren die ersten fleißigen Dealer und Pulververkäufer unterwegs. Die Tuk-Tuks standen Schlange wie Rikschas zur Wiesn, die ersten Menschentrauben bildeten sich vor den Tamales- (eine Art Maisgrieß mit deftiger Füllung) und Bierständen der Ortsansässigen.
Am zweiten Tag musste ich gleich zur Frühschicht um Sieben, jedoch reden wir hier von einem Musikfestival, da passiert in den frühen Morgenstunden gerade mal gar nichts. Pipa und ich waren am Parkplatz eingeteilt, lagen in der Sonne und redeten, wenn wir nicht eben eines der sage und schreibe drei Autos auschecken mussten, die in den Ort fahren wollten auf einen ordentlichen Kaffee.
Die restliche Zeit chillten wir am Infostand, der gleichzeitig die Dispo für alle Springer (hier: „floater“) darstellte, und bandelten mit anderen Volos an, unterhielten uns über die DJ‘s am Vorabend und wo man am besten günstiges Acid bekommt.
Ich denke, der Glanzpunkt meiner Mission an jenem Tage bestand darin, einmal alle Kompost-Klos abzuklappern und Toilettenpapier aufzufüllen.
Jeden Tag – eine gute Tat.
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(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht