Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Unter Geiern…
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Ein wiederum fast perfekter Schacht von etwa zwanzig Metern Tiefe führte dort in… nun, die Tiefe und gähnte wie ein versteinerter Schicksalsschlund. Etwa vierzig ungeduldige Atemzüge sowie einige Treppenstufen später fanden wir uns am Rande dieses einzigartigen Bauwerks, geschaffen von etwas, das sich dem menschlichen Verstand feixend zu entziehen scheint. Ich komme mir vor wie Alice auf ihrem erstaunlichen Fall ins Wunderland. Down the rabbithole…
Wie Lianen streckten die Bäume an der Oberfläche ihre Wurzeln bis knapp unter den – wiederum gläsernen – Wasserspiegel, ein nie zur Neige gehendes Tischlein Deck Dich für die stoischen Zaungäste unter dem kleinen Flecken Himmelblau weiter oben. Die Stalagtiten an den Felswänden versuchten, es ihnen gleich zu tun, scheiterten jedoch kläglich.
Jetze und ich wollten daran emporklettern in ein fantastisches Wolkenreich, in dem Riesen über ihre Gold- und Silberschätze wachen, aber der etwas gelangweilte Bademeister hielt uns mit einem halbherzigen Murmeln davon ab.
À propos Schätze. Wie ich hörte, flohen die Maya in früheren Zeiten an jene gut versteckten Orte, um den raffgierigen Conquistadores zu entgehen. All ihr Gold und Silber versenkten sie angeblich in den dunklen Tiefen der heiligen Cenotes, was zur Entstehung einiger El Dorado-Legenden geführt hat und hoffnungsfrohen Tauchern noch heute den Puls in die Zirbeldrüse treibt.
Oxman jedoch dürfte sie vor eine angemessene Herausforderung stellen, den von der Wasseroberfläche geht es heitere weitere 40 Meter nach unten und wer weiß, in welch ausgedehnte Höhlensysteme sich der senkrechte Krater sonst noch verzweigt.
Wenn man für ein paar Sekunden seine hyperventilierende Klappe hält, entfaltet sich eine traumgleich friedliche Stille, die von einem leis’ sanften Tröpfeln eingerahmt wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass man an solch einem Ort nach fünf Minuten Meditation wie von der Tarantel gestochen in die formlose Unendlichkeit geschossen wird, die schon vor allen Dingen existierte.
Mit Augen wie tränenden Meteorkratern standen wir da und wollten ihnen nicht trauen. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich mich an meinem zu Fels erstarrten Staunen verschluckt und adhoc wiederbelebt hätte werden müssen. …Hätte werden müssen? – Von mir aus.
Einen Spielplatz gab es dort auch in Form eines Seiles, mit dem man sich heiderdaus wie Tarzan im Orientierungspraktikum in die Cenote schwingen konnte.
Ha, war das ein Spaß! Man darf nur nicht zuviel Anlauf nehmen, weil die feuchte Holzstange, an der man sich theoretisch festhalten konnte, so glitschig war, dass man sich aufgrund der horizontalen Beschleunigung in diesem Fall praktisch unmöglich festhalten konnte.
Was dann passiert, erkläre ich Euch gern und ausführlich, denn mir – und glücklicherweise den meisten anderen (außer Jetze, der mal wieder mit seinem überlegenen Können angeben musste) – ist es grade so passiert:
Man hält sich also anlaufend an dem unmöglich glitschigen Stück Holz fest und merkt recht schnell, dass man einen furchtbaren und unumkehrbaren Fehler begangen hat. Denn die anfänglich horizontale Beschleunigung verwandelt sich durch den verzweifelten Versuch, sich festzuklammern, im Nu in eine rotierende, transzendiert quasi selbstvergessen in ein fröhliches Drehmoment.
Es ist erstaunlich, wie man auch in einem solchen Schreckmoment einen gewissen masochistischen Sinn für die Schönheit spontanen Timings behält, denn genau in dem Moment, in dem mir das vergnügte Drehmoment dabei behilflich war, mich auf den Rücken zu drehen, beschlossen meine sozusagen haltlos überforderten Hände einstimmig, das glitschige Holz loszulassen. Daraufhin aber wandte sich das Drehmoment enttäuscht und beleidigt von mir ab und beschleunigte mich aus Rache fortan vertikal nach unten.
Könnt Ihr mir auf meinen verschlungenen Wegen folgen und das Ergebnis bereits vor Euch sehen?
Genau. Mit einem herzhaft schmatzenden Rückenpflatscher durchbrach ich denn graziös die Wand aus Wasser, die sich aufgrund meines rechten Eintrittwinkels verdächtig nach poliertem Marmor anfühlte. Ich hatte das Gefühl, als ob mir Zentimeter für Zentimeter die Haut vom Rücken abgezogen wird, lachte und winkte nach meinem Auftauchen aber in gespielter Ungezwungenheit, wie um mich selbst davon zu überzeugen, dass der Schmerz nicht mehr als eine Illusion sei.
Das stimmt natürlich, aber was schert das meine Nervenzellen, die haben schließlich einen Job zu erledigen und kümmern sich nicht um metaphysisches Geschwafel.
Äußerlich grinsend tobte in meinem Inneren ein wüster Orkan der Agonie.
…Warum zeigen Menschen nach außen immer wieder genau das Gegenteil von ihrem Inneren?
Nun, die Antwort ist einfach: Scham. Simple, unverfälschte und selbstredend deplazierte Scham. Als ob es nicht jedem Anderen auch so erginge. Aber wenn man in Kindheit und Jugend wegen jedem unfreiwilligen Furz ausgelacht und an den Pranger der Lächerlichkeit gestellt wird, dann sitzt das ganz schön tief. Vielleicht tiefer als der Grund einer Cenote.
Kinder sind Arschlöcher. …Nicht dass ich das nicht auch getan hätte. Angriff ist die beste Verteidigung, nicht wahr? Und lustig dreht sich das Rad des Lebens.
Aber es ist erst früher Nachmittag, wir haben noch Zeit. Denn ganz in der Nähe der Oxman-Hazienda gab es zwei weitere Cenotes, die sich wiederum in gänzlich anderer Weise präsentierten.
X’Keken (sprich: Sch’Keken) und Samula waren nämlich bis auf ein kleines Guckloch oben fast vollständig unter einer Höhlendecke verborgen, in der es überraschend warm war. Während X-Keken mit einer Kuriosität glänzen konnte, die wie ein umgedrehter Baum aus zusammengewachsenen Stalaktiten anmutete, konnte Samula mit keinen ausgefallenen Features mehr aufwarten.
Das war uns aber grade recht, denn so langsam fransten unsere Sehrezeptoren aus, und unser Endorphinhaushalt schaltete keuchend auf Reserve. Reicht jetzt, wird Zeit heimzufahren.
Pfuh! Erst ganz am Ende merkten wir, was wir unseren Körpern abverlangt hatten. Rein ins kalte Wasser, raus an die Hitze, radeln, rein und wieder raus… In der letzten Cenote hielt ich es widerstrebend kaum fünf Minuten im Wasser aus, bevor ich aufrichtig zitterte und mein Kreislauf begann, sich auf das Wesentliche (Überleben) zu konzentrieren.
Das war sicherlich der bisher anstrengendste, aber auch mit Abstand schönste Tag meiner Reise. Glücklich und zum Sterben müde biss ich in Sandra’s leckere Pizza con Pollo (Hühnchen).
Aber auch die Relativität ist ein Arschloch.
Am nächsten Tag kam Nikola, ein sympathischer Franzose (Manchmal wird einem die Welt nie langweilig. – Das war gemein. Aber gut.), von eben der gleichen Tour zurück und zeigte sich eher weniger beeindruckt:
Er sei ja in einem kleinen Dorf in der Nähe von Mérida gewesen, wo es viel schönere, viel mehr und viel billigere Cenotes gab, und selbstverständlich kein einziger Tourist, nur glückliche und freilaufende Locals, die ebenso leckeres wie günstiges Essen feilboten.
Es gibt immer einen. Einen, der es besser weiß, einen der es besser kann, einen, der weiter springen kann, einen, der perfekter ist. Das Lustige daran ist, ihm geht es genauso. Also kann man sich genauso gut entspannen und die Polypen in der Nase zählen.
Wohlan denn, habe ich etwas vergessen? Wenn ja, so wird es seinen Grund haben.
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(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht