Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Bürokratischer Winter…
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Am dritten Tage jedoch lichteten sich die Schatten zunehmend, und so etwas wie ein roter Faden schien sich abzuzeichnen, ein neuer Schlachtplan nahm langsam Gestalt an. Zuhause schien sich die Lage zumindest für ein paar Tage entspannt zu haben, was mir wiederum etwas mehr Spielraum verschaffte.
Was also tun? Das ESTA blieb erwartungsgemäß auch nach mehrmaligem Nachfragen für alle Zeiten abgelehnt, persönliche Notfälle lassen die amerikanischen Schultern der Bürokratie so kalt wie eine Leiche im Winter. Für ein normales Visum fehlte die Zeit, die Umbuchung meines Rückfluges oder eine zeitnahe Neubuchung erschienen viel zu teuer.
Blieb nur eine Möglichkeit: ich musste mein Zeitfenster ausdehnen und brauchte einen neuen Flug, der mich trotzdem so bald wie möglich und NICHT über die verflucht Vereinigten Staaten nach Hause trug. Und siehe! Tatsächlich gab es zehn Tage später eine bezahlbare Condor-Maschine, die mich sogar direkt nach München bringen konnte.
Einziger Nachteil: ich musste zurück nach Cancun. Das ist jetzt nicht gerade die nächste Ecke von Guatemala City aus, aber dank des größzügigeren Zeitrahmens auch nicht unerreichbar. Ja, ich hatte sogar noch Gelegenheit, auf dem Weg das große und eindrucksvolle Tikal zu besuchen. Jetzt ist eh schon alles wurschd.
Also. Tief durchatmen, alle Gänge und Getriebe in den Leerlauf, ein paar Sekunden verstreichen lassen und eine neue Platte auflegen mit einer völlig anderen Melodie. Und das Allerwichtigste: nichts wie raus aus diesem verruchten Drecksloch!
Kein Wunder, dass ich bisher nichts über Guatemala City gehört habe, die Stadt ist so einladend wie eine Eiserne Jungfrau mit Rostflecken.
Das Hostel verließ ich nur zum Essen, obwohl es da drin jetzt auch nicht unbedingt gemütlich war. Eigentlich gab es alles, was das Backpacker-Herz begehrt, hot water sowie charmante Zitate und Aphorismen an den Wänden, sogar einen kleinen, traurigen Pool unter der grauen, ungemütlichen Kälte des hiesigen Winters.
Die Pfannkuchen am Morgen waren lecker, ich verzehrte fünf davon, bevor ich wieder damit begann, an meinem Telefonhörer klebend auf und ab zu tigern wie ein gefangenes Raubtier, zu argumentieren, zu erklären, zum 835. Mal das gleiche Gesülze vom Stapel zu lassen, immer wieder von neuem, wie Sissyphus am Murmeltiertag.
Und gerade wenn man denkt, dass ja irgendwo ein Licht im Tunnel sein muss und man ein Stück weiter kommt, zack, steht Murphy wieder da mit seinem entnervenden Grinsen, das sich wiederspiegelt auf einer funkelnden Schere in seinen Händen, und kappt das wifi. Gnnnn… Nochmal!
Haaaah, vielleicht lag es auch nicht am Hostel.
Trotzdem, die Leute dort waren strange.
Zuerst dachte ich wirklich, es läge nur an meinem desolaten Zustand und dem dazugehörigen inneren Filter, und vielleicht stimmt das, aber selbst wenn ich mich aus den tiefsten Tiefen menschlichen Daseins prustend und keuchend an die Oberfläche wühlte, verspürte ich einen seltsam unchilligen Vibe dort.
Wie auch immer, was die Stadt angeht, bin ich mir zu hundert Prozent sicher, dass es sich um ein katastrophal fehlgeschlagenes Experiment menschlichen Zusammenlebens handelt. Es ist so, wie wenn man Captain America haben möchte und den Hulk bekommt.
Den Leuten hier fehlt jegliches Leben oder auch nur das kleinste Fünkchen Seelenregung in ihren kalten und verödeten Löchern, die früher einmal strahlende Augen gewesen sein mögen – Augen, die Geschichten erzählten. Jetzt erblickte ich nichts mehr darin außer einer kahlen, dumpfen Wüste.
Brrrr. Deswegen: ab in den Bus und auf in den Norden, zurück nach Mexiko!
So saß ich denn in Flores, nur eine Woche später und dachte mir: „Ist das wirklich alles passiert? Innerhalb so kurzer Zeit? –- Was für ein kranker Wahnsinn…“
Ob ich das Geld für den verhinderten Flug je wiedersehen werde, steht in den Sternen von American Airlines, aber zumindest hatte ich nun einen Plan.
Ich saß dort, meine Tore und Schleusen standen weit offen, und ein weiterer Tag im verwirrenden Zwischenleben neigte sich seinem Ende entgegen. Was für eine haarsträubende Rutschpartie ins neue Jahr! Jede Achterbahn würde desillusioniert in Pension gehen und anfangen, Flugzeugmodelle zu basteln.
2018 brach mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag aus allen Wolken, und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich Murphy danken oder ihm endlich seinen verteufelten Trickster-Hals umdrehen soll.
Sind wir bald da?
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Bitte umblättern: Gelebter Widerspruch…
ESTA abgelehnt? Das habe ich ja noch nie gehört. Als deutscher Staatsbürger hast Du ja schon quasi das Geburtsrecht auf ein esta. Oder verschweigst Du uns deine terroristischen Neigungen? Entschuldige bitte, wenn die Antwort darauf in den Beiträgen vorher steht…ich versuche nachzulesen, bin aber im Moment landunter. Am Montag steht mein Interkontinentalumzug an…
Kein Ding, ich kann Dich voll verstehen. Ich kann Umzüge an sich schon nicht leiden, und das dann auch noch über einige Tausend Kilometer scheint mir der schiere Wahnsinn! Anyway, das Geburtsrecht verliert man anscheinend an der Grenze zum Iran. Da war ich und das mochten sie nicht. 🙂