Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Wilde Zeiten…
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Lasst mich Euch nun erzählen, wie sich dieser denkwürdige Tag in meinem Leben entfaltete:
4:43 Uhr
Die Welt liegt im Dunkel. Ich bin wach. Und nüchtern. Etwas stimmt nicht.
4:58 Uhr
Verwirrt und ungelenk versuche ich, meine Zähne zu putzen. Es besteht kein Zweifel, IRGENDetwas… läuft hier furchtbar schief!
5:17 Uhr
Vorsichtig tastend setze ich einen Fuß vor meine Haustür- Was ist das für ein Geräusch?! – Ah. Vogelzwitschern.
5:35 Uhr
In der Arbeit fertige ich gähnend eine Kopie von meinem Pass an. Der Nachtschichtler blickt mich entgeistert an.
5:56 Uhr
Ich betrete eine Bäckerei. Der Verkäufer erschrickt zu Tode. Vor seinem Kollaps reicht er mir noch eine Butterbreze sowie einen Cappuccino zum Mitnehmen. Ich fühle mit ihm.
6:13 Uhr
Ich erreiche den sagen- und geheimnisumwobenen Ort im Münchner Norden.
(Ich habe ein Schweigegelübde abgelegt. Sollte ich JEMALS! in meinem Leben, auch unter brennender Folter, die genaue Lokalität jener geheiligten Stätte preisgeben, so werde ich als Reihenhaushälfte mit Wasserrohrbruch wiedergeboren.) Vor mir warten bereits an die dreißig Jünger. Es kann sein, dass auch Weibsvolk anwesend ist.
6:14 Uhr
So. Ich habe mich angestellt. Jetzt liegt alles in Höheren Händen. Ich packe mein Buch aus, beiße genüsslich in die Brezn und beginne zu lesen.
6:49 Uhr
Die Sonne geht auf. Ich aber sehe sie nicht.
7:34 Uhr
Immer mehr Gläubige pilgern herbei. D’hiese beKACKten Amateure.
8:30 Uhr
Das Büro öffnet seine Pforten! Es entsteht Unruhe unter den Wartenden. Hinter vorgehaltenen Händen wird geflüstert, Hälse recken sich schwanengleich gen Himmel.
9:28 Uhr
Die Schlange zieht sich nun camping-höckrig um mehrere Straßenecken.
Sie wissen nicht, dass es bereits zu spät ist.
9:43 Uhr
Ich dagegen sitze wohl auf der dritten Treppenstufe im Erdgeschoss!
10:12 Uhr
Ich bin auf Seite 108. Ganz werde ich den Ulysses leider nicht mehr schaffen.
10:39 Uhr
Ich befinde mich lediglich zwei Schritt weit entfernt vom obersten Treppenabsatz. In ein paar Stunden sollte ich das Plateau des Fegefeuers erreicht haben.
10:42 Uhr
Lorena kommt vorbei. Wir unterhalten uns.
11:01 Uhr
In Zimmer 11 nehme ich mit einer demütigen Verbeugung das verheißungsvolle Formular entgegen. Meine Hände zittern vor spiritueller Erregung.
11:02 Uhr
Andächtig und mit sorgfältigen Strichen gleitet mein Kuli einer Samuraifeder gleich über das schneeweiße Papier, welches im Morgenlicht sanft glitzert.
11:06 Uhr
Nach nervenzerbrechenden und seelenfressenden vier Minuten habe ich es nach bestem Wissen und Gewissen sowie der mir eigenen, unverlöschlichen Liebe zur Wahrheit ausgefüllt.
11:14 Uhr
Ich kann ein Licht sehen. – Es ist kalt. Bin ich tot? …Nein, es ist nur das funkelnde Weiß einer Neonröhre, die auf magische Art und Weise an den Gewölben in der Halle der Letzten Prüfung zu kleben scheint.
11:32 Uhr
Es ist soweit. Ich stehe direkt vor den Toren Walhallas, am Fuße des Olymps, einer wolkigen Himmelspforte am Gartenzaun von Eden, bereit einzutauchen in das Vergessen der unergründlichen Weiten von Shangri La.
11:33 Uhr
Mit zitternden und schweißglitschigen Händen ergreife ich die goldene Klinke des Schicksals. Mein Atem streicht wie ein heißer Wind über die ausgedörrte Savanne meiner Mundhöhle. Ich trete ein…
Die nun folgenden Momente stehen in keinem Buch, zieren kein Gedicht und werden von niemandem besungen.
11:43 Uhr
Es ist vollbracht!!
Wahrlich, ich stehe auf der Liste! (Vorgemerkt wohlgemerkt.)
Frohlockend und jauchzend tanze ich an den armen zu Wohnungsmaklern verdammten Seelen vorbei in einen schimmernden und salbungsvollen Tag.
(Im Jahre des Herrn 2013)
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht