Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Minnesänger & Marktschreier…
———————————————–
Nach kaum einer Stunde erreichten wir unser Ziel und begaben uns sogleich nach der Entrichtung des obligatorischen Eintrittsgeldes (dieses Mal bescheidene fünfzig Birr nur) zu den Wasserfällen.
Obwohl wir ihm versicherten, dass wir keinen Guide benötigten, begleitete uns ein junger, intelligenter Student aus freien Stücken, sein Blick in Erwartung eines etwaigen Trinkgeldes fest in die Zukunft gerichtet. Tatsächlich war er ein so liebenswürdiger, entspannter und hilfsbereiter Zeitgenosse, dass wir ihn nicht nur gewähren ließen, sondern ihn am Ende züchtig entlohnten.
Die Landschaft in der Gegend um Tis Abay war überwältigend schön. Über eine romantische Steinbrücke, die von portugiesischen Missionaren* gebaut wurde, passierten wir ein niedliches Flussbett aus schwarzem Lavagestein und erreichten danach eine Anhöhe mit umwerfenden Blicken auf das uns umgebende Hügelland mit seinen knorrigen Bäumen, die ihre Äste störrisch und herausfordernd gen Himmel reckten.
*Wie übersteigert und der Realität entfremdet solche Leute in ihrem religiösen Eifer sein können, wird durch den unwiderlegbaren Tatbestand klar verdeutlicht, dass sie freimütig versuchten, ein bereits christliches Land zu „bekehren“, das darüber hinaus in seiner Tradition viel älter und fester verwurzelt war als ihr eigenes.
Dort wie auch an so manch anderem Ort in Äthiopien verzierten Jacaranda-Bäume die Szenerie, deren bildhübsche Blüten in zartem Violett mir in Mittelamerika bereits das Herz erwärmten.
Nach einer weiteren Biegung konnten wir unweit vor uns den Flusslauf und die Wasserfälle des Blauen Nils („Abay“) erkennen, die, gekrönt von den umliegenden Bergen, über eine breite Felskante etwa vierzig Meter in die Tiefe donnerten.
Die zwei Gigantenduschen waren zwar weit von dem Spektakel entfernt, dass gemäß den verblichenen und ausgefransten Werbeplakaten während der Regenzeit veranstaltet werden muss, doch hatten wir Glück, da immerhin die Schleusen des vorgelagerten Kraftwerkes geöffnet waren. Ansonsten wäre es wohl kaum mehr als ein Rinnsal gewesen.
Wie bereits angedeutet, konstatierte mein schizophrener Reiseführer, dass sich aus eben diesem Grunde in den Monaten Januar bis März die Reise nach Tis Abay kaum lohne.
Pff. Dilettanten. Selbst wenn man von den Wasserfällen enttäuscht werden sollte, eine Wanderung in dieser herrlich stillen Natur lohnt sich allemal und reicht dicke.
Ausgiebig betrachtete ich das Schauspiel vor mir und verspürte dabei zunehmend einen unwiderstehlichen Drang, den Fluss zu meinen Füßen zu durchqueren und eine hämmernde Dusche zu nehmen.
Das wiederum sei von Regierungswegen verboten, da die Kids aus der Gegend – meiner Ansicht nach in absolut nachvollziehbarer und verständlicher Weise – an jenem lauschigen Platzerl des öfteren Parties veranstaltet hatten und schlussendlich auf die gleiche Idee verfielen.
In ihrem Falle sei das jedoch ein folgenschwerer und tragischer Gedankengang gewesen, da nicht wenige in den tückischen Wasserwalzen unter den Fällen ihr Leben verloren.
Wenn man allerdings einmal von einem derart fatalen Ausgang absieht, erinnerte mich das doch sehr an meine eigene Jugend: selbstverständlich will man an so einem Ort feiern und dancen und abgehen!
Same same. But different.
Dieser ausgelatschte Spruch enthält am Ende mehr Wahrheit, als einem lieb sein kann.
All das berichtete mir Abraham, unser spontaner Führer, der sogar das deutsche Wort „Wasserkraft“ fehlerlos aussprechen konnte; ein weiteres Zeugnis für die unbändige Reiselust der Deutschen, die anscheinend allüberall, selbst im Raum zwischen den subatomaren Teilchen ihr wunderliches Unwesen zu treiben scheinen.
Der Kaffee ohne Kuchen in einer nahebei gelegenen Rundhütte kam uns recht gelegen, und wir unterhielten uns (nichtsahnend) mit einer Fotografin aus Hamburg, die auf einem idyllischen Campingplatz mit ein paar exemplarischen Exemplaren dieser süßen traditionellen Behausungen übernachtete, der unschlagbar und direkt über den Wasserfällen angelegt worden war.
Ups, schon so spät! Die Mädels mussten am Abend noch einen Flug nach Addis erwischen, aber bevor wir zum Bus hechteten, musste ich diesen friedvollen Ort einmal genauer unter die Lupe nehmen, weil es im akustischen ferenji!-Fallout das ideale Versteck wäre, um für ein paar Tage dem hektischen und aufgeblasenen Treiben der äthiopischen Städte zu entkommen.
Wer weiß, vielleicht nach meiner großen Runde durch den Norden, bevor ich ein letztes Mal in den faszinierenden Moloch von Addis Abeba eintauche. Vielleicht.
So, dann war es aber höchste Eisenbahn, und wir spurteten an einem saftig grünen Chat-Feld vorbei. Anscheinend stellt diese Region nach Harar das zweite große Anbaugebiet des endemischen Aufputschmittels dar, „und sowieso ist der Shit bei uns am besten!“
„Si claro, Du keine Zeit, wir müssen jetzt echt zum Bus!“
Stracks hüpften wir auf ein Fährboot, das uns über den Fluss setzte, der im übrigen den größten Zufluss des uralten, biblischen Ghion darstellt, welcher erst im Mittelmeer zur Ruhe findet.
Zusammen mit Euphrat, Tigris und dem Ganges in Indien zählt er zu den vier großartigen und zivilisationsstiftenden Strömen der Erde, die sich aus den ätherischen Gefilden des Himmels ergießen, um die Menschheit mit ihrem heiligen Wasser zu segnen und zu erfreuen.
Nur so.
Das war uns jedoch nur am Rande bewusst, als wir ohne Sticks an trocknenden Tierhäuten vorbei zum Bus extremewalkten und uns wüst in die Menge quetschten. Geschafft!
Zurück in Bahir Dar verabschiedete ich mich ergebenst von den Fräuleins und verbrachte den Rest des Tages mit dem kläglichen Versuch, die flirrenden und glitzernden Eindrücke der vergangenen Tage zu verarbeiten,
…die wie brennende Derwische mit Schluckauf hinter meinen Augäpfeln tanzten, die wie ein nicht enden wollendes Feuerwerk aus funkelnden Sternennebeln unter meiner Schädeldecke explodierten – die sich wie ein hypnotisierendes Kaleidoskop aus sich selbst heraus entstehenden Bildern und Fraktalen ineinander schoben und zur gleichen Zeit auseinander zu driften schienen…
…bevor ich endlich zu der nicht weniger flirrenden und verschachtelt leiernden äthiopischen Popmusik einschlief, die aus den Bars und Kneipen in der Straße unter meinem Zimmer im dritten Stock der Tsehay-Pension heraufschallerten.
Bernd Bierbaum beschreibt sie in seinem Buch „Äthiopien – Zwischen Himmel und Erde“ folgendermaßen:
„Eine Vielzahl von Zwischentönen, die ich nie zuvor hörte, kommuniziert miteinander über oszillierende Melodientreppen, deren Stufenlängen unterschiedlich getaktet sind. Das Grundtempo befindet sich am Rande der denkbaren Möglichkeiten, etwa so, als solle mit einem voll bepackten Überlandbus auf kurvenreicher Strecke ein Rennwagen überholt werden. Ich stelle mir vor, dass die Noten wie in einem chaotischen Teilchenbeschleuniger durcheinander geworfen werden und Kollisionen nicht selten sind. Wie viel von dem Geräusch gewollte Musik ist, kann ich beim kritischen Blick auf Boxen und Verstärker nicht ausmachen. Auszuschließen ist jedoch nicht, dass prekäre Technik und Schwindel erregende Tonlagen hier zu einer Symbiose finden.“
Ich war erstaunt, fasziniert und ein klein wenig berührt, denn er benutzte eine ganz ähnliche Bildsprache wie ich selbst. Gleichzeitig war ich von seinem kristallklaren Blick für’s Detail und dem Farbreichtum seiner Sprache tief beeindruckt und gleichermaßen! von geifernd grünem Neid erfüllt.
————————-
Bitte umblättern: Tod im Leben…
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht