Wenn ich über Schuld innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs (Der Begriff „Kontext“ ist zwar kürzer, aber ich kann ihn nicht leiden, er kommt mir so elitär vor.) nachdenke, so geht für mich stets die Frage damit einher, wer denn nun angefangen hat.
Es möchte sie doch keiner bei sich haben, also brauchen wir immer einen Sündenbock. Ganz schön anstrengend, wenn man zusammen rechnen wollte, wie viel Zeit und Energie die Menschheit seit ihrem Erwachen (oder manch einer würde sagen: seit ihrem Schlaftraum) in dieses ehrgeizige Unternehmen gesteckt hat.
Aber auch ein Leichtes, insofern man den Faden aus rot lodernden Rachegelüsten nicht konsequent zu Ende denkt; wobei „Denken“ an dieser Stelle schon mal irreführend erscheint. Vielmehr handelt es sich doch hierbei um eine klassische, direkte Ursache-Wirkung-Kette, die da durch unser limbisches System flackert.
Auslöser: irgendein Unrecht, zum Beispiel jemand pisst Dir ans Bein.
Wirkung 1: ein diffuses Gefühl des Angepisstseins, das sich kristallisiert zu
Wirkung 1.1: einem klaren, gerichteten Gefühl des Angepisstseins; Projektionsfläche: Jemand.
Wirkung 2: Killswitch – Jemand töten.
Argumentation 0: Denn mein Gefühl der Wut befindet sich bei ihm und wird durch seine Vernichtung ausgelöscht. qed.
Wie effizient und gut diese Strategie funktioniert, kann man aktuell sehr schön im Mittleren Osten beobachten.
Wenn ich aber den gefährlichen Schritt unternehme, genauer hin zu sehen, – Kinder, macht das zu Hause bloß nicht nach! – so werde ich irgendwann zugeben müssen, dass selbst der grausamste Tyrann und Schlächter nicht einfach so mit böser und nichts als böser Absicht in die Welt gekommen ist.
Sogar Melkor war zuerst bloß von seinem Dad und seiner Gang angepisst. (J.R.R. Tolkien, „Silmarillion – Ainulindalë“) Er hat sich nicht gleich von Anfang die Eisenkrone aufgesetzt und gemeint: „Hey, ich finds geil, der Arsch zu sein! Gebt mir eine Welt, damit ich sie dem Erdboden gleich machen kann.“ Er hatte einfach einen anderen Musikgeschmack; er war ein Punk! – Und das Establishment so: „Yo Digger, das läuft nich’.“
Manche Eigenschaften mögen ererbt sein, vieles erlernt man. Wenn man dem Gesetz des Karma folgen mag, so sitzen einem sogar die Engel und die Dämonen vergangener Leben im Nacken: Wirkungen noch älterer Ursachen, die in Wirklichkeit ihrerseits nur wieder Wirkungen waren. Die eigentliche Ersttriebfeder verliert sich im Nebel des Zwischenraums.
Egal, ob Ihr daran glaubt oder nicht, aber jeder Mensch hat sein ganzes Gepäck an einem bestimmten Punkt seiner Existenz einmal erworben, ob vor, während oder nach der Geburt, was spielt das in Wirklichkeit für eine Rolle?
Aber von wem, oder was?
Von den eigenen Eltern, die uns in frühester Kindheit schon unbewusst ihre eigenen Stempel aufgedrückt haben, zum Segen und Fluch für unser Leben? Und was sind sie wiederum mehr oder anderes als der Ausdruck und Fortentwicklung ihrer eigenen Anlagen und Prägungen?
Und was heißt in dem Zusammenhang „ererbt“?
Ist das nicht bloß eine faule Ausrede, eine Ent-Schuldigung: „Sorry, da kann ich also gar nichts machen, das liegt an und in meinen Genen.“? Vielleicht haben einige von uns in der Zwischenzeit tatsächlich gelernt, den Schwarzen Peter nicht einfach anderen Leuten unterzujubeln. Aber einen Sündenbock brauchen wir halt immer noch.
Wie kommt denn überhaupt eine Information in die DNA, in unsere Gene? Einfach so, wie bei Melkor? Das Arschloch-Gen, codiert als „ACC“ in der Molekül-Sequenz? So ein Krampf.
Irgendeiner muss damit ja mal angefangen haben. Vielleicht einer, der sich in grauer Vorzeit einmal gesagt hat: „Ja. Das macht viel mehr Sinn, in der Höhle ist es definitiv wärmer als draußen. – Schreib das auf.“
Die Epigenetik geht mittlerweile davon aus, dass Umfeldeinflüsse unsere DNA schreiben und jederzeit verändern können. Und wer oder was soll es auch sonst bitteschön sein? Ein mysteriöser Urquellcode? Kann Gott php oder Java?
Im übrigen habe ich persönlich ja nichts gegen einen Schöpfer, solange dieser nur in allen Dingen steckt. Somit ergibt sich für mich dadurch auch kein logisches Dilemma, denn in dem Fall steckt Gott nicht nur in mir, sondern gleichzeitlos auch in meinem Umfeld. Voilà.
Aber was ist dann mit unserem armen Freien Willen, Gott hab ihn selig? An den scheinen wir uns ja oft noch mehr zu klammern als an den Sündenbockstrohhalm. Ohne den kann es auch schlecht einen Sündenbock geben, wenn man genau darüber grübelt. Wenn sich jemand nicht aus „freiem Willen“ dazu entscheidet, ein Vollpfosten zu sein, …was dann?
Theoretisch denke ich, dass das alte Entweder-Oder-Prinzip endlich einmal ausgedient haben muss, oder findet Ihr nicht? Pole und Extreme dienen doch nur dazu, Dinge klar unterscheiden zu können, aber in Wirklichkeit gibt es sie gar nicht. Oder nur ganz kurz. Bin ich also tatsächlich und vollkommen frei oder in irgendeiner totalen, fatalen Weise fremdgesteuert und programmiert?
Falsch, keines von beiden, sondern schlicht und ergreifend beides. Im Rahmen meiner Prägungen und Muster bin ich tatsächlich frei in meinen Entscheidungen. Nur ist der Gartenzaun mal eben enger und mal weitläufiger geschnallt, das kommt ganz auf die Witterung drauf an.
Ich glaube insgeheim, dass die meisten von uns, moi aussi, weit davon entfernt sind, in diesem Sinne möglichst „frei“ agieren zu können. Denn sind wir nicht alle Gefangene unser eigenen Krähenpsyche, so nicht eine glückliche Fügung des Schicksals oder die führende Hand einer weisen Seele uns dahingehend unterweist, aus einem größeren, vielleicht sogar göttlichen Reservoir zu schöpfen?
Da schwillt bei dem einen oder anderen jetzt bestimmt die Brust und vielleicht sogar der Kamm, und sie mögen sich sagen: „Was? So ein Schmarrn, ich bin doch nicht verrückt! Ich hab’ mein Leben voll im Griff!“ Naja, jein.
Das Lustige an derlei eingeprägten Verhaltensmustern besteht doch darin, dass man sie weder sehen noch hören, ja, nicht einmal bemerken kann, wenn man nicht ständig wie ein Hans-guck-ins-Gebein durchs Leben gehen mag.
Das ist wie bei einem Computer, solange er reibungslos funktioniert, ahahaha: Die Programme laufen ab und man bedient sich ihrer, sie selbst sind aber unsichtbar, scheinbar gibt es sie gar nicht, denn sie arbeiten im Hintergrund, unter der Oberfläche, und es erscheint fraglich, ob der Rechner selbst dazu imstande ist, sich ihrer bewusst zu sein.
Man kann darüber debattieren, noch und noch, aber wenn ich ganz, ganz ehrlich bin, so muss ich doch einsehen, dass ein Großteil der Menschheit (wohl eher fast Alle, und zwar pausenlos) von jenen unbewusst – oder unschuldig? – erlernten, machtvollen und gar starrhalsigen Mechanismen gelenkt und beherrscht wird.
Wäre dies nicht der Fall, so sehe die Welt mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutend anders aus. Weniger rot, wenn ihr mich fragt; und damit meine ich nicht die Linken.
Selbst wenn wir alles, all unsre Fehler und unser Scheitern auf unsere Ahnen abladen wollten, wo soll die Spur enden im abgrundlos dichten Nebel unserer Vergangenheit? Gleichwohl könnte man den Affen verurteilen, der die Unverfrorenheit besaß, vom Baum seiner tierischen Existenz herunter zu kommen.
Aber auch das reicht uns nicht aus. Lasst uns den Fisch verbrennen, der in seiner hellen Verblendung beschloss, an Land zu springen. Und was ist mit den Amöben oder der allerersten Zelle, die in maßloser Selbstsucht damit begann, sich zu teilen?
Wenn man diesen gedanklichen Pfad also konsequent zu Ende geht, so können wir gleich den Schöpfer selbst ans Kreuz nageln, der in seiner allmächtigen Unwissenheit sämtliches Leben erschaffen hatte, nur um sich selbst zu erblicken.
Und an dieser Stelle frage ich Euch: Wo ist er dann, dieser heiß begehrte und viel geliebte Sündenbock?
Überall und nirgends. Aber das ist uns wurschd und wir morden fröhlich weiter. Tausende von Jahren und noch länger nun haben wir dieses mit Gusto zelebriert, und wo hat es uns hingeführt? Nach Moria.
Ich denke, es reicht jetzt. Es reicht bis zum Halse dessen, was ich ertragen kann.
Wollen wir nicht lieber umkehren?
Wollen wir dieses uralte Spiel vom Hass und Schmerz nicht aufgeben und den rostigen Panzer unserer Selbstverleugnung sprengen?
Wollen wir uns nicht endlich eingestehen, dass wir, mit all unseren Schattenseiten, eigentlich nur Teil haben an diesem großartigen und wahnsinnigen Universum?
Und dass man sich deswegen nicht ins Hemd und niemandem ans Bein pissen muss?
Anstatt weiterhin mit unserem eigenen Blut ins Buch der Geschichte dieser Welt zu schreiben, wollen wir sie nicht lieber versöhnen und Platz machen für etwas Neues und unendlich viel Schöneres? Oder wenigstens Anderes.
Denn genau das tut jeder, der sich aufrichtig um seine Seele sorgt auf dem Weg seiner eigenen, heiligen Entwicklung. Der nach innen schaut, den Müll und den Dreck, den wir sowieso alle miteinander teilen und mitschleppen, bei sich behält und damit arbeitet, anstatt ihn angewidert von sich zu weisen und mit einem zitternden Finger auf die Welt zu zeigen.
Seite für Seite verbrennen sie die Seiten ihrer eigenen Vergangenheit im bedingungslosen Feuer der Liebe. Der Liebe zu sich selbst mit all ihren Kerkern.
Und wir wissen doch alle, was ein Frühjahrsputz so alles ausrichten kann, zum Guten wie zum Schlechten.
Alles, was es dazu braucht, ist eine einfache Entscheidung, und den freien Willen, den Mut und die Geduld, diesen Weg unverzagt bis zu seinem letzten Ende zu gehen, ins Licht der Ewigkeit oder so. Gewiss ist das nicht einfach und verlangt womöglich nach mehreren und vielleicht noch zahlreicheren Anläufen und Versuchen, aber ganz ehrlich:
Was, außer unserer eigenen Hölle, haben wir schon zu verlieren?
Ist eine bessere Welt es nicht wert, Hunderte, Tausende oder auch Hunderttausende Schritte zu unternehmen und Nichts unversucht zu lassen?
Ist das nicht sinn- und wertvoller, als bis in alle Ewigkeit dieselbe leidige Frage nach dem „Wer ist Schuld?“ zu stellen und sich dabei immerzu wie die alte Schlange in den eigenen Schwanz zu beißen?
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht