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Gold im Mund

Manchmal, wenn ich frei habe und mein Kopf klar und rein ist wie ein unumwölkter Frühlingsmorgen, entsteht irgendwann nach dem Aufstehen ein Bild von einem Ort in meinem inneren Auge. Und dieser Intuition folgend lasse ich mich nach meiner Morgenroutine, die aus mehreren ernsthaft inwendigen Ritualen wie dem Sonnengruß, konzentriertem Zähneputzen und einer andächtigen Morgenzigarette besteht, gern an jenen Ort treiben, um dort den Tag lesend und schauend zu verbringen.

Jedoch bin ich in jener intuitiven Kunst noch so unbefleckt und unbewandert wie ein neugeborenes Fohlen, das, noch immer feucht und schleimig und verwirrt, seine ersten wacklig tänzelnden Schritte unternimmt, um zum ersten Mal in dieser schweren und festen Welt seine Balance zu finden.
Dementsprechend selten und kostbar sind solche goldenen und friedlichen Momente, und sie glitzern in meiner Erinnerung wie funkelnde Diamanten im warmen Sonnenlicht. Selten genug, um sie festzuhalten und sich wohlig darin treiben zu lassen.

See im Westpark

So begab es sich also, dass mich mein rostbraun scheppernder Cruiser an einem schönen Nachmittag im Mai gemächlich in den Münchner Westpark trug, bis ans Ufer des kleinen Sees in seiner grünen Mitte. Noch als ich den Schwung meines Rads langsam verebben ließ und es sanft an einen graubraunen Baumstamm kettete, spürte ich bereits, dass ich genau jetzt genau hier sein sollte.

Seit letztem Jahr hat hier ein bezauberndes Café mit dem bodenständigen und sinnhaften Namen „Gans am Wasser“ geöffnet und verkauft aus einem blauen Kiosk saftigen Kuchen, selbstgemachte Bioland-Pommes und frischgepresste Saftensembles für die zeitvergeistigten Feinstaubökos.

Ganz am Wasser

Danach kann man es sich bodenständig an einem Klappstuhl mit Tisch direkt am Wasser gemütlich machen. Doch schon die farbenfrohen und mit eher orientalischen Mustern bestickten Sitzkissen lassen erahnen, dass es sich hierbei nicht um ein herkömmliches Biedermeier-Etablissement mit diesen unheimlich strahlend weißen Tischdecken handelt.

Dazwischen und ummadum gibt es mit Polstern und Kissen versehene Europaletten und sogar halbierte Badewannen, wo man als gestandener Hipster seinen Vollbart in die behaarte Brust versenken und mit einem betont süffisanten Lächeln auf den Lippen seine Hornbrille polieren kann. Nebenan steht ein Zelt mit weiteren Sofas und Teppichen, auf denen Yoga angeboten wird. Wenn man Glück hat, erwischt man eine Live-Band, die unter seinem kühlenden Schatten ganz dezent ein paar sacht gezupfte Klänge in die ihr zulächelnde Welt schickt.

Anders

Willkommen im 21. Jahrhundert. Lasst Euch jedoch von meinen sarkastischen Anmerkungen nicht hinter‘s Licht führen, denn ich kann nun mal nicht anders. Das bedeutet nicht, dass ich mich nicht vom Fleck weg in diesen Ort verliebt habe, denn mit Liebe wurde er wahrhaftig gemacht und eingerichtet. Sobald man sich in seinem Dunstkreis bewegt, spürt man, wie die Seele einen sanft streichelnd und liebkosend umwabert, stimmungsvoll eingerahmt von kerngrün blühenden Baumreihen am anderen Ufer.

…und gmiatlich

Nur teuer ist er auf den ersten Blick. Gell?
Schon schiebt sich eine dunkle Gewitterwolke in mein heiteres Gemüt und lässt mich irritiert und leicht angewidert die Stirn runzeln. Aber was ein feiner Yogi ist, atmet einmal tief durch und bestellt sich leichthin einen bodenständigen Kaffee statt einem aufgematschelten Latte Macchiato mit nichts als Schaum vor den Lippen und kann so sage und schreibe satte 1,20 Euro sparen.
Und über die Kuchen lass‘ ich nichts kommen, die sind der Wahnsinn. Probiert mal einen Käsemohnkuchen, herrlich! Der zergeht einem auf der vor Wollust zuckenden Zunge wie ein Nutellapeeling in der Tropenwaldsauna.
Eigentlich ist es da gar nicht so teuer…

Qual der Wahl

Zum bodenständigen Kaffee passt doch ein ebensolcher Klappstuhl, dacht ich mir. Man sitzt nah am Wasser, und auf dem Tisch steht ein Aschenbecher, perfekt. Sodann grub ich meinen Hintern genüsslich wackelnd in das goldbefirlanzte Esokissen, schlug die Beine züchtig übereinander und nach einem herzenstiefen Seufzer des Wohlgefallens mein Buch auf.

Ich versank in den dahinfliegenden Seiten und ließ das Geschnatter der Gänse und Menschen am Wasser an mir vorüberziehen wie Nebelschleier aus flatterhaften Illusionen, ein paar Ameisen und Fliegen taten sich auf meinen Armen gütlich und säuberten im Ausgleich dafür anständig meine Poren.
Nach einigen Stunden jedoch wurden mir die Augen müde und mein Kopf fing an, leicht indigniert zu summsen wie eine geschlauchte Hummel, und ich legte meine fabelhafte Geschichte dankbar nieder.

Frühling

Nun, ich kann mir schon vorstellen, dass Hummeln leicht ermüden, immerhin widersetzen sie sich Tag für Tag hartnäckig allen physikalischen Gesetzen und pissen Herrn Newton, Gott hab ihn selig, und wer weiß wem noch, gepflegt ans Bein. Eigentlich dürfte es sie gar nicht geben, genauso wenig wie die Pyramiden, aber das ist ein anderes Thema.

Jedenfalls möchte ich gern wissen, ob unsere Gelehrten heutzutage bei ihren frivolen Anblick doch leicht ins Schwitzen geraten oder ob sie sich an ihrem freien Tag ganz nonchalant in die andere Richtung drehen und stattdessen lieber über verschränkte Quanten nachdenken. Der böse fliegende Hund, der sieht mich nicht, lalala.

Jedenfalls legte ich mein Buch zur Seite und wurde gewahr, dass der entspannte Herr mit sportlich-schneidiger Sonnenbrille und Kopftuch, der seit einiger Zeit neben mir saß, doch keine jener flüchtigen Illusionen wahr. Jedoch saß er da so gemütlich, dass es schon fast meditativ wirkte. Wir nickten uns lediglich zu in beiderseitigem Einvernehmen, dass eine sorgfältig ausgearbeitete Begrüßung in dieser Situation weder angemessen noch der Sache dienlich sei, und beließen es dabei.
So saßen wir in stillem Gebet nebeneinander und schauten zu, wie der Tag um uns herum verstrich…

Kraft

…Das Wasser glänzt spielerisch im gleißenden Sonnenschein, ständig kreisen und schweben winzige Wellen darüber hinweg, meist verursacht von herzhaft, wenn auch durch übermütige Kindeshand leicht unkontrolliert, geworfenen Steinen, die mit einem tiefen Plupp! im trüben Gewässer verschwinden. Die Gänse und Reiherenten stört das freilich nicht, die haben sich schon längst an die lärmenden Schrazen gewöhnt.

Auf der anderen Seite paddeln zwei Entenpärchen mit jeweils exakt drei Entenschrazen gemächlich ans Ufer, ab und an kommt ein hungriger Fisch an die Oberfläche und schnappt nach etwas für mich Unsichtbarem.
Doch nicht etwa nach Luft?! – Der wird doch nicht spontan zu einem Landtier mutieren, weil‘s heut so schön ist? Bleib schön da drin, ich sag‘s Dir! Deine Vorfahren sind schuld, dass wir heute in diesem Schlamassel sitzen. Findet jedenfalls Herr Darwin, aber da scheint ja das letzte Wort auch noch nicht gesprochen.

Liebe

Doch zurück zum Moment. Am meisten Stress scheinen die Mücken zu haben, die wie wildgewordene Junkies auf einem Trance-Metal-Konzert durcheinander flitzen und wirbeln: „Geilgeilgeilgeilgeil- Hee! Geilgeilgeilgeilgeil…“ Ihre Anzahl wird durch den blendenden Zerrspiegel des Sees verdoppelt und verwischt verklärt sich zu einem hypnotisierenden Kaleidoskop.

Einmal schrecke ich hoch und sehe gerade noch, wie drei Enteriche mit anmutig ausgebreiteten Schwingen im Formationsflug zur Landung ansetzen und mit einem synchronen „Tschschschsch!“ gekonnt aufsetzen. Selbst die sich langsam ausbreitende Furche, die sie auf der Wasseroberfläche hinterlassen, schwingt in sakraler Harmonie.
Die Perfektion gedankenloser Schönheit.

Süße Trägheit

Die Radlfahrer am anderen Ufer scheinen sich nur leidlich schneller durch den Park zu hieven als die gähnende Sonne am bildblauen Himmel, und es ist nicht mal Wochenende. Die Welt selbst scheint einmal vornübergebeugt die Hände in die Knie zu stemmen und durchzuschnaufen in dieser atemlosen und bis über die Fontanelle zugekoksten Zeit.

Aber selbst die geht an einem so heiligen und glockenhellen Tag einmal vorbei.
Der Herr neben mir erhob sich langsam und gefühlvoll wie ein Gebirge beim Auffalten, testete sorgfältig die Funktion seiner Beine, setzte sich nach befriedetem Urteil wie ein Gletscher auf Betriebsausflug in Bewegung und nickte mir abermals zu:

„So. Pfia Gott.“
Ich: „Servus, mach‘s guat.“
Mehr gab es nicht zu sagen.

 

Om

Schönheit