Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Wasser, das aus…
———————————————–
Bahir Dar selbst erschien mir, abgesehen vom betulichen Einzugsbereich des Sees, wie eine typische, zu laute und vor Leben kotzende äthiopische Kleinstadt mit ihren Myriaden an bajajs und Minibussen und geschäftig wuselnden Einwohnern.
…Kein Wunder, die reden alle so laut, denn wie um Himmels willen soll man sich sonst in dieser Open Air-Fabrik der mit Widerhaken und giftigen Stacheln versehenen Sinneseindrücke verständlich machen?
Nach dieser ganzen Achterbahn-Action schaltete ich hörbar und vernehmlich ein paar Gänge herunter; und das mit augenscheinlich sichtlichem Erfolg. Selbst die Bewohner der Stadt spürten instinktiv, wie mir die Seligkeit und der innere Stillstand aus der Schalotte sprang.
An einem Tag, ich erinnere mich noch genau, da spazierte ich an der Uferpromenade des Tana-Sees entlang mit seinen Jacarandas, Mangobäumen, Bambussträuchern und diesen fast geckenhaft empor springenden Schilfgewächsen, die ein bisschen aussahen wie die schnatternde Tussi von den Muppets, nicht Miss Piggy, wie hieß sie noch?
Niemand wollte etwas von mir, niemand sah mich schräg von der Seite an oder rotzte einen halbstarken Kommentar vor meine Füße. – Mais non! Alldiehalbe Passanten grüßten mich nur freundlich und schenkten mir ein friedvolles Lächeln.
„Jesses, was ist denn hier kaputt?“
Na schön, bis auf den unfreiwilligen Nachmittags-Besoffski, der torkelnd hinter uns* herkam und es immerhin noch fertigbrachte, ein verwaschenes „motherfucker“ auf Englisch zu improvisieren.
Aber das kennt man ja. Sobald man einen im Te hat, wird man auf einmal mutlilingual und spricht sämtliche Sprachen der Welt fließend. Im wahrsten und wörtlichsten Sinn.
*Das war im übrigen der Tag, da ich Tilahun („Schatten“) begegnete, der zusammen mit seinem Bruder den Kriegswirren in Somalia entflohen war.
Wir führten ein sehr nettes und angenehmes Gespräch, er sprach ein sanftes und gewähltes Englisch, dem ich stundenlang hätte zuhören können.
An einer Stelle eröffnete er mir, dass er schon ab und zu seine Familie vermisse. „Sind die alle noch drüben in Somalia?“ fragte ich da; wahrscheinlich machte er sich Sorgen um sie. „No. They‘re dead.“
—
Schluck. Okay, der Kloß muss erst einmal runter.
Aber schon gingen wir weiter, nach einer kurzen Pause wechselte er das Thema, und wir sprachen über andere Dinge, wie das im Leben so ist.
Am Schluss wünschte ich ihm und seinem Bruder von Herzen alles Gute in diesem für sie wie für mich fremden Land. Er ging zurück in seine bescheidene Bleibe für 2.000 Birr (70 Euro) im Monat und ich auf die Dachterrasse des Naky-Hotels zum Sunset und einem kühlen Bier.
Fühlt Ihr Euch jetzt auch so beschissen und erbärmlich wie ich in dem Moment?
Hm, wohl nicht, wieso solltet Ihr? Ihr wart ja nicht dabei.
Naja, nachdem ich auch den Hieb in die Magengrube verdaut hatte, wurde ich mir schleichend, nach und nach meiner Umgebung bewusst.
Das war schon gewaltig da oben: mein Blick schweifte weit über die ganze Stadt, die fast vollständig von üppigem Grün verschluckt wurde; beinahe wie eine versunkenes Reich in einer gewollt schlechten B-Kopie von „Indiana Jones“.
Direkt unter mir, zwischen den Betonriesen breitete sich ein mit Plastik und Wellblech bewehrter Slum aus, was die Leute da unten den Geräuschen nach zu urteilen nicht davon abhielt, eine lustige Zeit zu haben.
Oben am Himmel kämpften dicke Wolkenbänke mit einem lodernden Feuerball um die Vorherrschaft und zauberten ein göttliches Schauspiel an die heimelig blaue Leinwand unseres Firmaments.
So denn die Traumgebilde aus Wasserdampf und Nebel einen frechen Vorstoß wagten, sandte der Glutofen unserer Sonne seine Strahlen nach allen Seiten hin aus wie sengende Speere und Lanzen, die imstande waren, selbst das kleinste Materiekügelchen in der Mitte zu durchbohren.
Wenn man eine Ahnung vom Epos der Unendlichkeit bekommen will, so bildet eine derartige Komödie hierfür ein ganz vorzügliches Vorwort. Ich fühlte mich umfangen und getragen von etwas, dass fürwahr übermenschlich und überirdisch sein muss, und mein Herz wollte mir in der Brust zerspringen wie Porzellan und vor Freude Purzelbäume schlagen!
Jeden einzelnen Abend meines Aufenthaltes in Bahir Dar verbrachte ich dort oben (auch weil das wifi da am besten war), trank eine Cola oder ein Bier für meine Aufenthaltsgenehmigung und dachte wehmütig an die Cocktail-Sessions mit Tom und Carmen auf einer ganz ähnlichen Dachterrasse im fernen Mandalay zurück, die in meine Erinnerung hinabsinken wie eine blassgelbe Sonne in dicken Nebeldunst.
————————-
Bitte umblättern: Spiegel & Fenster…
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht