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Vertraut fremd

All das erschien mir so fremd und neu… und doch! Und doch hatte ich das unheimliche Gefühl, spürte ich es in tief im Mark meiner Knochen, dass ich diesen Ort und all diese Menschen irgendwie – kenne. Es erweckte etwas in mir, etwas Urtümliches, Verborgenes, ein Gefühl des Verlustes, der Trauer vermengt mit unsäglicher Verbundenheit und Freude. Es verströmte eine so starke und mächtige Aura, dass es mir den Atem nahm. …Ich kenne das.

Natürlich nicht den Ort an sich, sondern das Gefühl, das all das hier vermittelte. Es war mir ebenso vertraut wie der tiefste Kern in meinem Bauch, der jedes Mal bohrt und sticht und sich rührt, wenn etwas Bedeutsames geschieht. Es verband mich mit meiner frühesten Kindheit, mit etwas, das mich in meiner Essenz, in meinem ureigensten Wesen berührte und mir zuflüsterte von Vergangenheit und Erinnerung, von Liebe und Wehmut und Sehnsucht.

Kindheit

Unweigerlich tauchte das Bild eines kleinen Roma-Mädchens vor meinem inneren Blickfeld auf mit Augen wie zwei unergründliche Steine aus Obsidian. Ich weiß nicht, wer sie war oder zu welcher Geschichte sich gehörte, ich weiß nur noch, dass ich sie als kleines Kind im Fernsehen sah. Wie…?

Diese ganze Szenerie berührte und erschütterte mich wohlig schauernd in meinen Grundfesten. Alles dort war… magisch, rein, unverfälscht, pur. Ich schwamm in diesem namenlosen See aus Bruchstücken vergangener Emotionen, die so alt sind wie die Welt.

Namenlos

Das Gleiche geschah, als ich mir in einem Zelt die Bilder eines Malers anschaute, die mir ähnlich anmutig und perfekt erschienen wie die Darbietungen der Feuertänzer da draußen, ein schillerndes Echo auf Leinwand gebannt. Goldene Pyramiden, Engelswesen, geometrische Formen verschwammen und fingen ihrerseits an zu tanzen, Farben und Formen flossen ineinander.
…Auch in ihrem schönsten Augenblick verzichtet die Schöpfung nicht auf eine ordentliche Portion Kitsch.

Dann setzte ich mich nachdenklich zu den Locals beim Comedor unter einem Baum, das niemals zu schließen schien. Die fleißigen Frauen und Mädchen schnibbelten und schälten bereits für das kommende Frühstück in ein paar Stunden.
„Ja, es gibt immer welche, die arbeiten müssen und das ganze Spektakel wohl mit etwas anderen Augen sehen“, dachte ich mir mit einem Anflug aus schlechtem Gewissen und Mitgefühl.

Andere Augen

Und wenn jemand in so einer Situation mitfühlen kann, dann ein Rikschafahrer, der nachts um zwei am Rand des Oktoberfestes sein erstes Feierabendbier aufmacht. Same same.
Ich bestellte mir eine Ladung Tamales und schwarzen Kaffee, nur ein Gedanke geisterte durch meinen Kopf: „Wo zum Teufel bin ich hier gelandet…“
Ich war ein Floater, im wahrsten Sinne.

Schweren Herzens packte ich am letzten Tag meine Sachen und folgte Pipa, der die Gewalt über unser Zelt hatte und zurück ins „La Isla“ wollte (Wer will das nicht?). Doch muss ich auch sagen, dass es gut so war, ich fühlte mich genährt und gesättigt. Also ab nach Santiago und zurück in die vermaledeite Zivilisation.

Ausflug

Die Schatten wurden länger, und es wurde Zeit zu handeln. Bereits während des Festivals auf dem einen oder anderen Café-Ausflug streckte ich meine digitalen Fühler aus, um meinen Rückflug umzubuchen, denn wie es den Anschein hatte, musste ich meine Reise tatsächlich unterbrechen.

Zudem schienen sich die Dinge zu jenem Zeitpunkt schneller zu entwickeln als erwartet. Die Umbucherei gestaltete sich jedoch schwieriger und kostenspieliger als erwartet, was mich dazu verleitete, den einzigen und mit Abstand günstigsten Flug von Guatemala City nach München zu buchen, schon zwei Tage nach dem Festival.

Das wird ein Kulturclash der allerfeinsten Sorte, das sag’ ich Euch.
…Scheiße nochmal. Kann es sowas überhaupt geben? Zwei so fundamental unterschiedliche Welten, die innerhalb von so kurzer Zeit IN MIR zusammenprallen? Geht denn das oder muss ich nicht vielmehr explodieren wie ein gespaltenes Atom?

Andere Welt

Alter. Das ist schräger als Schlingensief in einem Monty Python-Cartoon.
Egal, alle anderen Flüge waren doppelt so teuer, lasst das als Zeichen gelten. Fliegen wir halt in 48 Stunden über die gottverdammten Vereinigten Staaten, hilft ja nix.

Zeitgleich füllte ich meinen Antrag für das ESTA-Visum aus, zögerte jedoch im Abschnitt „Reisen in den letzten fünf Jahren“.
Mist. Vor zwei Jahren war ich im Iran.
Hm. Wenn ich es nicht angebe und die am Flughafen meine Visa im Pass kontrollieren, dürfte ich kräftig am Arsch sein.

Adieu

In jedem anderen Land wäre ich das Risiko einer Stichprobenkontrolle wohl eingegangen, aber ich hatte gehörigen Respekt vor der amerikanischen Paranoia. Doch erahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ihr volles, fast schon tragisches Ausmaß.

„Nein, das Risiko gehe ich lieber nicht ein, schließlich war ich dort nur Tourist für zwei Monate, und ich brauche doch nur so ein bekacktes Transitvisum, wird schon schiefgehen.“ Klick, die Weichen waren gestellt, und ab in den Chicken-Bus nach Guatemala City.

Chicken Bus

Die heißen im übrigen deswegen so, weil es sich dabei um die günstigen Kurzstreckenbusse handelt, in denen alles Mögliche transportiert wird, unter anderem auch Ziegen oder eben Hühner. Voll geil, dafür benutzen sie diese alten gelb-schwarzen Schulbusse, die man in fast jedem amerikanischen Hollywood-Streifen sieht, nur neu verchromt und ziemlich crazy bemalt. Hätten super auf die Convergence gepasst; im Prinzip eine eigenständige Sehens- oder besser Erlebenswürdigkeit.

Dementsprechend natürlich weniger bequem, aber das war mir in dem Moment komplett egal. Einerseits war ich mit dem Kopf schon halb Zuhause, konnte aber andererseits den Lauf der Dinge immer noch nicht so wirklich fassen.
Doch diesbezüglich war das erst der Anfang.

 

Schönheit

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