Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Kontrollverlust…
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Auch die Busfahrt zurück nach Oaxaca war scheißegal.
Die Tatsache, dass ich ganz vorne saß und sogar meine Beine hochlegen konnte, war scheißegal.
Die wunderschönen Berglandschaften, die sich am darauf folgenden Morgen meiner Nachtfahrt jenseits der Fensterscheibe draußen entfalteten, mit all dem Gestrüpp und den immer zahlreicher werdenden Kakteen, die auf ihnen wuchsen, sie waren mir alle scheißegal.
Die Art und Weise, wie das Tal sich sanft in jene Hochebene um die gleichnamige Hauptstadt hinein öffnete, war scheißegal.
Ja, sogar dieser wunderbare Moment, als ich mich nach den langen Stunden im Bus endlich wieder einmal gerade hinstellen und mich ordentlich durchbewegen konnte, war an und für sich scheißegal.
Naja, fast.
Es gab eine Sache, die war mir nicht scheißegal, denn ich brauchte noch eine pässliche und ausreichend komfortable Bleibe für die kommenden Tage; zum ersten Mal mutterseelenallein unter all den vielen Menschen.
Wahrscheinlich war das der einzige Grund, warum ich überhaupt noch am Leben war. …Nein, wahrscheinlich nicht.
Davor war ich überhaupt nicht allein gewesen, aber unter ganz wenigen Menschen.
Wie sich herausstellen sollte, waren das tatsächlich die einzigen, was, drei, vier? Tage während meines gesamten Trips, die ich nur für mich selbst haben durfte.
Gott sei Dank wusste ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Hätte mir das vorher jemand gesagt, ich wäre gewiss schreiend davongelaufen. Im Ernst, ich glaube, ich war noch niemals so viel, so ausdauernd und so dicht mit anderen Menschen beieinander gewesen wie auf der Reise. – Ich finde, dafür stand ich noch ganz gut da.
Sagen wir, es war die Vorsehung meines Bauchgefühls, oder das Bauchgefühl meiner Vorsehung, die mich nach einigem Suchen ins „Don Pablo“-Hostel verschlugen. Eigentlich wollte ich ja ins „San Pedro“, das wurde mir empfohlen, aber das konnte ich auf Anhieb nirgends finden.
…Also was Namensgebungen betrifft, sind diese Latinos mit ihrem Latein aber arg schnell am Ende, gell. Scheiße, die entfalten dabei eine Kreativität wie ein deutscher Ordnungsturner mit beidseitigem Mumps, und beide Male schüttelt es mich bei dem Gedanken daran.
Echt, das ist zum Kotzen: San José, Don Juan, San Juan, San Don San, ja geht’s noch??
Soviel Heilige und Herrschaften wie auf dem Kontinent umeinander geistern, denen muss das Patriarchat doch wie Brokkoli zu den Ohren rauskommen!
Sei’s drum. Ich jedenfalls kam zu dem schlagkräftigen Schluss, dass entweder ich, mein damaliges Gegenüber oder die Welt im Großen und Ganzen sich im Namen vertan haben musste, und ich dementsprechend sowieso im richtigen Etablissement gelandet war.
Ein paar Tage später entdeckte ich jedoch das San Pedro und damit den Trugschluss meiner diesbezüglich logisch einwandfreien Deduktionen. Trotzdem hatte sich am Ende und in diesem Fall ganz sicher die Welt geirrt, denn das Don Pablo blieb, zumindest für mich und für einige Zeit, die richtige Adresse.
Es war nämlich eine ganz ruhige und friedliche Oase mit einem hübschen Innenhof, und keiner wollte etwas von mir oder den vielen Pflanzen, die dort gediehen. Wo mir nicht ständig einer die Sonne stahl und dazu auch noch ganz dreist von mir verlangt, mit ihm in einen gegenseitigen Informationsaustausch hinsichtlich unserer jeweiligen Reisevorlieben und generellen Lebensläufe zu treten:
„Oh really, you’re taking a sabbatical from your Masters in Event Management and Marketing –that’s so awesome- and you wanted to try something a bit more exotic and book a hostel on tripadvisor, how quaint! – Now get the FUCK out of my face!“
Sorry, das war gemein, aber. Echt!
Au contraire. Nach ein paar Tagen, als ich meine Aufmerksamkeit wieder vorsichtig der Außenwelt zuwandte, stellte ich mit Erstaunen fest, dass mir die Gäste und demnach auch die ganze Stimmung in dem Laden doch eher seltsam vorkamen.
Wo jeder nur herumdruckste und ganz betreten auf den Boden schaute beim Frühstück, fast so, als hätten sie ein schlechtes Gewissen, überhaupt auf der Welt zu sein. Das gibt es ja auch mal ab und zu. …Ich bin auch mal so ab und zu.
In unserer heutigen Zeit fällt einem das ja oft gar nicht mehr auf, weil wir solchen Menschen einfach ein Smartphone zwischen die Finger geschoben haben. Dann wirken sie auf einmal gar nicht mehr so komisch. – Außer auf mich in dem Fall, ich hab’s gemerkt.
Womöglich erhöhen die Dinger in der Tat die soziale Akzeptanz von Freaks, früher hätte man die noch weggesperrt, das kann schon sein. …Ob sich das lohnt, dafür, dass sie einem das Gehirn verbrutzeln? Das ist dann wahrscheinlich so wie mit dem Huhn und dem Ei, in ein paar hundert Jahren fragt man sich, was da zuerst da war, der Verhaltenszombie oder Twitter.
Das ist doch mittlerweile bewiesen worden, oder, das mit den Strahlen? Ist das Fakt oder kann man das sagen?
Ich denke schon. Jedenfalls, wenn man als unschuldiger Backpacker einen Blick in so eine Runde wirft, dann rechne ich damit, dass man davon tendenziell eher abgestoßen wird wie ein Kolibri von einem Rudel autistischer Faultiere.
Objektive gesehen gäbe das also ein fettes Minus auf Hostelworld, aber in meiner derzeitigen Situation war es genau das Richtige, mir war das voll egal.
Ob ich in Wirklichkeit auch so gewirkt habe?
Die Dachterrasse war so herrlich beschaulich und verlassen, so dass sie sich in mein Unterbewusstsein festgesetzt hatte und ich eines Morgens früher als normal aufwachte, um mir in der Folge, aufgrund einer Explosion an verfügbarer Zeit und ein bisschen aus Überdruss, den Sonnenaufgang anzuschauen.
Um auch nur annähernd jedoch das ganze Ausmaß meines Wunsches nach Einsamkeit verstehen zu wollen, müsst Ihr Euch die Tatsache vor Augen führen, dass ich mich entgegen jeglicher Gepflogenheit und Tradition für ein Einzelzimmer entschieden hatte. Ich dachte mir, ob ich jetzad zehn oder fuchzehn Euro für ein Bett bezahle, ist in dem Fall ja auch schon scheißegal.
Früher wäre eine derartige Frivolität nie auch nur ansatzweise denkbar gewesen! Und selbst wenn sich eine freche Idee wie diese in mein Bewusstsein geschlichen hätte, ich hätte mir links und rechts eine saftige Watschn dafür verpasst, nur zur Sicherheit und aus Liebe.
So war ich aber herzhaft glücklich, und es blieb nichts weiter zu tun, als mich entlang jeglicher Gepflogenheit und Tradition durch die Straßen gleiten zu lassen und wie durch Zufall interessante Ecken zu entdecken.
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(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht