Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: In the Streets…
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Man nennt Sucre auch die „Weiße Stadt“, weil… nun, weil sie eben so ausschaut. Viele Gebäude werden in der Tat regelmäßig geweißelt erstrahlen somit in jener so schlichten, doch stolzen Farbe. Freilich beschränkte sich dies vor allem auf die Bezirke der Altstadt mit ihren ehr- (oder besser frag-?) würdigen Gemäuern aus der spanischen Herrschaftszeit.
Diese nahmen sich in Boliviens ehemaliger Hauptstadt umso prachtvoller aus, da sie noch aus dem Goldenen Zeitalter der Silbergewinnung um das 18. Jahrhundert herum stammen. Diesen Titel trägt sie im übrigen immer noch, obwohl bis auf das Verfassungsgericht sämtliche Regierungsgeschäfte und auch die damit einher gehenden Probleme und Proteste nach La Paz umgezogen sind.
Das alles machte jedoch einen Teil seiner entspannten Lebendigkeit aus, das und die Tatsache, dass sich eine der renommierteren Universitäten des Landes in Sucre niedergelassen hatte. Junges Volk bringt immer Veränderung und Wandel mit sich, zum Guten wie zum Schlechten.
Es gab kleine Parks mit Bänken, auf denen man sich hätte ausruhen können, wenn man keine Dachterrasse zur ständigen Verfügung gehabt hätte. Aber es lohnte sich zum Beispiel stets, in den „Mercado Central“ zu marschieren, denn dort gab es viel zu sehen und zu kaufen. Dort gab es auch das günstigste Essen, wenn Pascal einmal nicht zur Hand war, und lecker war es dazu.
Nein also, es machte schon Spaß, ab und an durch die Straßen und Gässchen jener annehmlichen Stadt zu marschieren, die sich vergnügt hinauf und hinab wanden. Denn wir befanden uns immerhin im Gebirge, wenn es sich wie gesagt auch nur um vorgelagerten Foothills der mächtigen Anden handelte.
Doch am meisten blieben mir die Gespräche und summenden Abende bei Mike im Gedächtnis, der stets und zu allen Zeiten wie ein Allvater über uns zu schweben schien, auch wenn er sich mitten unter uns befand.
Wunderbare Gespräche breiteten sich dort aus. Zum Beispiel erklärte ich den Kanadiern, warum die Musik von Paul Kalkbrenner unbedingt geil sein muss, und sie stimmten mir umgehend zu, als Belohnung erkoren sie mich sogar zum DJ für diesen einen Abend. Mit Georgia philosophierte ich gerne und oft über Alles und Nichts, ihre Gesellschaft war wie Balsam für meine Seele und brachte meine Nervenzellen dazu, Funken zu sprühen.
Vor Bea und Michi breitete ich, bestimmt durch die Einnahme einer dementsprechenden Menge Alkohol induziert, sogar meine intimste Psychokacke aus und klagte ihnen mein Leid von mangelhaften Selbstwertgefühlen sowie von den anhaltenden Verzwickungen und Verstrickungen mit meiner Ex.
Das war mir in der Form und Tiefe so nicht gängig, und ich entdeckte voller Staunen, dass ein derartiges Mitteilen meiner Selbst nicht nur unsagbar gut tut und Linderung verbreitet, sondern darüber hinaus von den beiden mit unumwundener Bewunderung für meine Offenheit quittiert wurde. Ach so?
Bis dahin hatte ich ja selbst mein Suhlen im Sumpfe innerer Niederungen mit Angst und Schrecken verfolgt und dachte, oh mein Gott, die müssen mich ja für ein ausgemachtes, sich selbst bemitleidenswertes Würschterl halten.
Aber nein!
Zu meiner unermesslichen Freude und Erleichterung schlugen mir Anteilnahme, Verständnis und auch Erkennen entgegen. Unter ihren liebevollen Blicken schmolz ich geradezu dahin. Ich war also nicht allein mit meiner Qual! – Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet, so naiv war ich damals noch mit 32.
Selbst auf der lichtvollen Terrasse gab es Schatten und Kehrseiten. Anfangs oder oft, wenn neue Übernachtungsgäste auftauchten, da war ich unruhig und hatte Angst vor unliebsamen Unsympathen, die den hohen Frieden stören sollten. Zu allen Zeiten sorgte ich mich darum, angenommen zu werden und Teil der Gruppe zu sein.
Wie gesagt, in dem Alter! Denn das waren ja keine von Grund auf neuen Erscheinungen, das kannte ich von mir seit jeher, doch hatte ich halt eben erst damit begonnen, ein umfassenderes und tieferes Bewusstsein für derartige Vorgänge zu errichten.
Außerdem sitzen manche Dinge wirklich heftig tief drinnen wie so ein fieser Dorn mit Widerhaken, die kriegt man so schnell nicht heraus, erst recht nicht, wenn man ihnen nur einmal begegnet und kurz „Hallo“ sagt.
Zudem quälten mich oft, vor allem am Morgen und am Abend üble Hustenanfälle, die in ihrer Intensität so arg wurden, dass ich davon auch noch Druckgefühle und ausgewachsene Schmerzen im Kopf bekam, eine wahre Seltenheit. Normalerweise bin ich pumperlgsund, versteht Ihr.
Ob das tatsächlich psychosomatisch war oder einfach an der Trockenheit und an der Höhe lag, das weiß ich nicht. Aber es war scheiße.
Ich versuchte ja, die Symptome mit Tabakrauch und intensiviertem Alkoholkonsum zu kurieren, aber das hat nicht funktioniert.
Dieser unselige Zustand hielt sogar noch an, als ich nach einigen Wochen und schweren Herzens Abschied nahm von Mike und seiner hübschen Ecke, um mit einigen passablen Spießgesellen auszubüchsen. Das waren eben Bas, seine Freundin Inje, Bob und Nathan, die just dahin wollten, wo auch ich hin wollte, und so nahm ich mein schweres Herz und sprang auf den anfahrenden Zug der Bestimmung.
Zwei Dinge hierzu:
Zum einen ist das ja auch so eine Sache, die mit der Intuition und spontanen Entscheidungen. Zu der Zeit nahm ich sie durchaus bereits wahr, aber ihnen darüber hinaus zu vertrauen, Jesses, ihnen gar zu folgen! Das war nochmal eine ganz andere Nummer und sollte Jahre und viele Reisen fordern, bis ich den Dreh so langsam raus hatte.
Dabei ist das so wichtig, wenn man seinen Weg im Leben gehen will!
Hinterher und so, ne. Die Zeit ist schon eine rechte Bitch, dass man immer erst Erfahrungen sammeln muss, bis man endlich gescheiter wird. Und dann stirbst eh, oder?
Echt, das nervt.
Zweitens kannte ich das gar nicht von mir. Mir ist es allgemeinen recht, auf eigene Faust loszuziehen, um eben Zeit für mich zu haben, um ein ungetrübtes und unabgelenktes Auge auf meine Umwelt werfen zu können, aber zu der Zeit hatte ich absolut keine Lust auf Alleingänge. Pfui Spinne!
Ich war so eingegossen in und durchströmt von Gemeinsamkeiten und Gruppendynamik, dass ich nichts wollte als mich an schöne und verständige Hosenbeine zu hängen. Ich war so gespannt und genoss das unaufhörliche Ratschen und Glucksen und Gelächter, als ob es das Leben selbst gewesen wär.
Das war es natürlich, unter anderem.
So war das, und so zogen wir hinaus zur nächsten Bushaltestelle, um eines der regelmäßigen Gefährte zu erhaschen, die sich weiter in die Berge hinauf bis nach Potosí kämpften.
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Bitte umblättern: Sie haben zu gierig…
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht