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Das Boot

In alten Zeiten lebten im gebirgigen Quellgebiet des Irrawaddy (aka Ayeyarwaddy; Anm. d. Sammlers) drei Freunde. Eines Tages kam ihnen der Gedanke, wie gut es wäre, den Irrawaddy stromabwärts zu fahren, um Handel zu treiben.

Sie gingen zu einem Bootsbesitzer, um sich von ihm ein Boot zu leihen. Weil sie ihm versprachen, die Bootsmiete bei ihrer Rückkehr zu zahlen und Ersatz zu leisten, falls das Boot entzweigehen sollte, überließ er ihnen sein Boot.

Fröhlich und guter Laune beluden die drei Freunde ihr Boot und nahmen sich jeder ein Ruder. Nun hatte aber keiner von ihnen jemals ein Boot gerudert. Also trieben sie, als sie das Boot bestiegen hatten, mit der Strömung flussabwärts.

Gestrandet

Sie wollten in den Häfen der Dörfer und kleinen Städte anlegen, aber sie wussten nicht, wie sie das anstellen sollten. Sie baten: „Liebes Boot, wir wollen in diesem Hafen anhalten.“ Doch das Boot gehorchte ihren Worten nicht. Es richtete sich nach der Strömung. So ging es fort und fort.

Jedesmal, wenn sie zu einem betriebsamen Hafen gelangten, befahlen sie dem Boot, haltzumachen, doch das Boot kümmerte sich nicht darum und trieb fröhlich auf den Wellen weiter, bis sie zu guter Letzt auf einer Sandbank strandeten.

Heimat

Da sprachen sie: „Liebes Boot, du bist wirklich nutzlos. Wenn wir dir befahlen, in den Häfen anzulegen, bist du weitergefahren und hast ganz einfach getrotzt. Jetzt nun, wo wir weder Dorf noch Stadt in unserer Nähe haben, lässt du uns, ganz wie es dir passt, auf diese Sandbank auflaufen. Du bist böse, äußerst böse. Du verdienst den Tod.“

Bei diesen Worten schlugen sie das Boot entzwei und liefen am Flussufer wieder zu ihrem Heimatort zurück.

Bootsbesitzer

Zuhause gingen sie zum Bootsbesitzer und sagten: „Dein Boot hat uns nicht gehorcht. Dort, wo es halten sollte, fuhr es weiter. Völlig gegen unseren Willen hat es da gehalten, wo es ihm genehm war. Also haben wir es auf einer Sandbank im Irrawaddy zerschlagen.“

Als der Bootsbesitzer den versprochenen Ersatz für sein Boot forderte, baten die drei Freunde um eine Axt. Sie gingen damit in den Wald und suchten nach einem großen Baum, um ein neues Boot bauen zu können. Endlich entdeckten sie einen, der am Rande eines tiefen Wasserfalls wuchs und ihnen gut gefiel. Sie kamen überein, ihn zu fällen.

Herrlicher Baum

Diesen herrlichen Baum müssen wir möglichst unversehrt bekommen. Deshalb wird einer den Baum fällen. Ein anderer klettert auf den Baum, um achtzugeben, dass der Baum nicht in die Schlucht hineinstürzt und dabei in Stücke geht. Einer aber“, so beschlossen sie, „wartet an der Stelle, wohin der Baum stürzen wird, falls er doch in die Schlucht fällt, damit er ihn aufhalten kann.“

Gemäß diesem Plan übernahm jeder seine Aufgabe. Der Holzfäller schlug lange mit aller Kraft auf den Baum ein. Derjenige, der auf den Baum aufpassen sollte, neigte sich zu der Schluchtseite, wohin der Baum nicht fallen sollte, und rief dem Baum zu: „Großer Baum, falle auf diese Seite, nicht wahr? Falle nicht dorthin, falle auf diese Seite!“

Wald

Der dritte Mann hielt sich bereit, um den Baum mit der Schulter auffangen zu können, damit er nicht auseinanderbräche, falls er doch nach der Schluchtseite fallen würde.

Als es soweit war, dass der Baum niederbrach, fiel er nicht so, wie es ihm von dem in seinen Zweigen sitzenden Mann aufgetragen worden war, sondern stürzte mit voller Wucht auf den Mann, der an der Schlucht stand, um seinen Fall mit der Schulter abzufangen. So geschah es, dass außer dem Holzfäller alle in tausend Stücke gerissen wurden.

Viehhändler

Obgleich der Holzfäller lange Zeit auf seine Freunde wartete, tauchten sie nicht auf. Er suchte sie, fand aber schließlich nur ein paar verstreute klägliche Reste. Er wurde sehr traurig, dass seine Freunde tot waren und er allein zurückgeblieben war. Da verließ er den Wald, ging auf eine Landstraße, legte sich rücklings hin, denn er glaubte, er sei nun auch tot.

Nicht lange danach kam ein Viehhändler mit seinen Kühen des Wegs und sah den Mann auf der Straße liegen. Da er fürchtete, seine Tiere könnten diesen Menschen zertreten, ging er zu ihm hin und weckte ihn, denn er sah, dass er in regelmäßigen Zügen atmete.

Irrtum

Der Mann aber sagte, er sei eine Leiche, und stand nicht auf. Wie der Viehhändler ihn auch rütteln mochte, er kniff die Augen ganz fest zu. Da dachte er, dass er wohl einen Irren vor sich habe, und schlug ihn mit seinem Knüppel.

Ich bin doch richtig tot gewesen. Wie kommt es, dass ich wieder lebe? Ist das ein Glück! Ich bin ein Beispiel dafür, dass einer, der mit diesem Stock geschlagen wird, wieder zum Leben erwacht!“

Handwerk

Dann bat er den Viehhändler eindringlich, ihm doch den Stock zu überlassen, mit dem er ihn geschlagen hatte. Der Viehhändler war darüber gar nicht böse, weil er sich bewusst war, dass er etwas zu weit gegangen war, und überließ ihm den Knüppel.

Der von den Toten auferstandene junge Mann überlegte sich, dass er von diesem Tage an ja auch andere Menschen vom Tode erwecken könne, so wie er durch diesen Stock wieder zum Leben zurückgefunden hatte. „Dieses Handwerk will ich von nun an ausüben“, dachte er, hielt voller Stolz seinen Stock in der Hand und setzte die Reise fort.

Viele Menschen

Binnen kurzem erreichte er ein Dorf und sah dort in einem Haus viele Leute, die weinten. Das waren die Eltern und Verwandten eines jungen Mädchens, die den Tod des Mädchens beklagten.

Als sich der Gast nach allem erkundigt hatte, sprach er: „Macht Euch bitte überhaupt keine Sorgen. Ich werde die Jungfrau wieder zum Leben erwecken.“ Da sagten die hilflosen Eltern, er solle verlangen, wieviel er wolle, wenn er nur helfen könne, und überließen ihm ihre Tochter.

Pfusch

Der Gast nahm den Stock, mit dem er vermeintlich selbst wieder erweckt worden war, und schlug auf die Leiche des Mädchens ein: einmal, zweimal, dreimal. Es rührte sich nichts. Er schlug ein viertes und fünftes Mal, so dass die Leiche schon unansehnlich wurde.

Da wussten die Eltern, dass der fremde Mann ein Pfuscher war, und sie sagten: „Warum tust du das, ohne irgendwelche Kenntnisse zu besitzen? Wenn du nichts kannst, musst du dich so verhalten wie die anderen auch. An Orten wie diesem ist man traurig, und alle weinen. Weine also mit uns!“

Fest

Der junge Mann nahm diesen Rat an, setzte seine Reise fort und kam zu einem Ort, wo man das Manaw-Fest feierte. Da schritt er ganz betrübt einher und setzte eine traurige Miene auf.

Als die Festgesellschaft ihn verwundert anstarrte und nach den Gründen fragte, erklärte er, dass man ihn gelehrt hätte, wie die anderen traurig zu sein, wenn er in eine Gruppe von Menschen käme, und deshalb weine er.

Da umringten ihn die Leute lachend und belehrten ihn: „Hier brauchst du das nicht so zu machen. Du brauchst nur fröhlich ,Awyawyan‘ zu rufen und mit uns zu tanzen.“

Auf der Lauer

Der junge Mann nahm sich die neue Belehrung zu Herzen, setzte seine Reise fort und traf auf einen Jäger, der gerade auf einen Muntjak anlegte. Der junge Mann aber jubelte aus Herzenslust „Awyawyan awyawyan“, tanzte und hüpfte, und der Muntjak suchte das Weite.

Da sagte der Jäger: „Lieber Wanderer, wenn du an Orte wie diesen kommst, wo andere auf der Lauer liegen, musst auch du ganz leise kommen und mit beobachten.“

Wäsche

Der Wanderer setzte seinen Weg fort und sah ein Mädchen, das Wäsche wusch. Da schlich er sich heimlich näher. Das Mädchen aber erklärte: „Aber Wanderer, an Orten wie diesem musst auch du Wäsche schlagen, wie andere es tun.“ Sie zeigte ihm, wie er mit dem Waschholz auf die Wäsche einschlagen müsse.

Da setzte der junge Mann seinen Weg fort und sah, wie sich in einem Dorf Mann und Frau in den Haaren hatten. Er fuhr mit seinem Waschholz dazwischen, schlug jedoch so auf die Frau ein, dass sie starb.

Schlichten

Da sagte der Mann: „Lieber Wanderer, warum hast du das getan? Jetzt musste meine Frau sterben. Wenn du auf Streitende stößt, solltest du den Streit zu schlichten versuchen.“

Nachdem sich der Wanderer diese Belehrung zu Herzen genommen hatte, setzte er seinen Weg fort. Er war kaum eine kleine Strecke gegangen, da sah er, wie zwei Büffel sich gegenseitig mit den Hörnern stießen.

Er stellte sich zwischen sie und rief: „Streitet euch nicht, streitet euch nicht! Macht Schluss damit!“ Den Streit aber konnte er nicht mehr schlichten, denn er büßte sein Leben zwischen den beiden Hörnerpaaren ein.
(A. Esche, „Märchen der Völker Burmas“)

Schicksal

Sandbank

Hafen

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