Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Psychische Landschaften…
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Für mich begann unsere gemeinsame Reise zwar mit einem weiteren Fail, da ich im Bus lediglich einen Gangplatz ergattern konnte. Doch gab es zwei Gründen, warum meine Vorfreude auf bevorstehenden Ereignisse und lustigen Dinge dadurch nicht geschmälert wurden.
Zum einen dauerte die Fahrt nach Potosí nicht sehr lang und zum anderen wurde sie mir durch die ansehnlichen Gebirgslandschaften des Altiplano versüßt. Zu beiden Seiten der Straße breiteten sich fließend die Wellenkämme und -täler der Hochebene aus mit hohen Bergrücken am Horizont.
Die Wolken schienen dort sehr nahe zu sein, aber ich denke eher aufgrund der Tatsache, weil sie sich an jenem Tag dazu entschieden hatten, zu uns hernieder zu sinken anstatt dass wir schon so weit hinauf gefahren wären. Ich sah Regenschleier in der Ferne, und meine Digitalkamera litt schweigend in meinem Schoß.
Nach etwa drei bis vier Stunden erreichten wir die höchste Stadt der Welt, die sich auf 4.100 Metern Höhe an eine Flanke des „Cerro Rico“ schmiegt. Die Tage waren verregnet und grau, passend zu den kargen Ebenen, die dort vorherrschten und über die kalter Wind blies.
Augenscheinlich und im ersten Moment erschien sie mir als ein uneinladendes, tristes Arbeiterghetto, ganz im Gegensatz zu dem abgefreakten Bus-Terminal, wo sich sogar der alte Hundertwasser noch verlaufen hätte. Aber ganz bald entpuppte sie sich als eine pulsierende Kolonialstadt.
Zum Beispiel sah ich abends viel mehr Menschen auf den Straßen als in Sucre, und ich fand, es herrschte eine tolle und lebendige Stimmung. Überall reihten sich Verkaufsstände und kleine Lädchen aneinander, es war ein Gewusel wie in einem geschäftigen Ameisenhaufen.
Potosí ist der Abklang eines alten Quechua-Wortes, das soviel wie „Donner“ oder „Ausbruch“ bedeutet. Diese Bezeichnung rührt freilich vom „Reichen Berg“ her, der im Süden der Stadt dräut und seit jeher die Geschicke ihrer faszinierenden und auch sehr traurigen Geschichte lenkt.
Ein Chronist aus dem 17. Jahrhundert beschrieb den Koloss als ein einzigartiges Wunder der Natur, die „Glückseligkeit der Sterblichen“, Eroberer der Gipfel und König der Berge. Wie konnte der sich nur in so romantische Höhen versteigen, das sich einem sogar die Luft zum Atmen davon stiehlt?
Die Antwort ist einfach und zweisilbrig: Silber. Der ganze Berg war voll davon.
Angeblich schürften dort schon die alten Inka nach dem kostbaren Metall, doch dann geriet der großartige Schatz des Cerro Rico in Vergessenheit, bis er durch Zufall von einem Llama-Hirten im 16. Jahrhundert wieder entdeckt wurde.
Der arme Tropf setzte sich am Abend hin und entzündete ein Feuer, um sich warm zu halten. Nach einer Weile fiel ihm ein glitzerndes Rinnsal auf, das aus der klein brennenden Wunde im Boden blutete. Ja, und dann dauerte es auch nicht mehr lange, bis die gierig eingefallenen Spanier davon Wind bekamen und seines und das Schicksal von Tausenden von Arbeitersklaven besiegelten.
Im Verlauf der der nächsten beiden Jahrhunderte schwoll Potosí auf etwa 160.000 Einwohner an und konnte sich in seiner Größe zu der Zeit sogar mit London messen, Madrid wurde bereits weit in den Schatten gestellt. Anhand ihrer Silberminen wurde sie zu einer der wohlhabendsten Städte auf der ganzen Welt, sie war schlichtweg das Kronjuwel der spanischen Conquistadores.
Ihre fabelhaften Reichtümer hätten sich wohl auch mit den alten Zwergenbingen vom Einsamen Berg messen können, von denen man sagte, mit all dem Silber könne man eine Brücke bis nach Spanien schlagen. Im Jahre 1658 etwa seien die Straßen anlässlich eines religiösen Festes zu Ehren Christi mit reinen Silberbarren gepflastert worden. Das ist ganz schön wild.
Die Einnahmen aus dem Silbergeschäft finanzierten die Kriege der Spanier und führten sogar in Europa zu einem enormen Wirtschaftswachstum, freilich auf Kosten zahlloser indigener und afrikanischer Sklavenleben. Wenn die sich, oft für eine ganze Woche ohne Unterbrechung, unter die Eingänge zu den Bergwerken beugten, marschierten viele gleichsam in ihren Tod.
Für diese armen Seelen wuchs sich die Pracht und der Glanz von Potosí zu einer menschlichen Katastrophe aus. Tausende von ihnen starben an Vergiftungen mit Quecksilber, das während des Abbauprozesses entstand, oder kamen auf einen Streich im Verlaufe eines Unglücks um.
Ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller beschrieb jenen alptraumhaften Ort als ein „unersättliches Biest, das die Menschen bei lebendigem Leibe verschluckt“. Im Schnitt kamen wohl sieben von zehn Arbeitern nicht mehr aus den Bergwerken heraus, wobei insgesamt an die neun Millionen Menschen den Tod gefunden und damit vorrangig zum Kollaps der Andenbevölkerungen beigetragen hätten.
Doch wie stets folgt auf einen derartigen Boom, der wie ein gefräßiger Krebs nach allen Seiten hin wuchert, am Ende das große Ompf, will sagen die Rechnung. Die Silberminen versiegten, Menschen suchten anderswo ihr Glück, und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts schwand die Einwohnerzahl von Potosí auf gerade noch 9.000 Seelen herab.
Der Traum war zu Ende geträumt, bis auf einige wenige, die auch heute noch in den müden Adern des Cerro Rico nach geringeren Erzen graben (vor allem Zinn). Die Stadt sollte sich vom Rückgang seines Schatzes und den Bergwerksschließungen nie mehr erholen. Alles, was heute noch an den alten Glanz erinnert, sind die Kirchtürme ihrer zahlreichen und schönen Iglesias.
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(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht