Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Odyssee…
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Viel zu tun gab es natürlich nicht. Gott sei Dank, denn die erzwungene Ruhepause konnte ich auch dringend brauchen. Noch immer gab es den einen oder anderen Tag, an dem es einfach nicht rund lief, wo es mich so richtig z’sammglass’n hat und ich am liebsten kehrt gemacht oder mich schmollend in eine Ecke verzogen hätte, bis zum Ende aller Dinge, Amen.
Es ist auch so, dass ich durch einen Mangel an Aktivität langsam aber sicher in eine Art tranige Lethargie abdrifte, die das geradlinige Denken auf lange Sicht gehörig erschwert.
So etwas ist mir im Eigentlichen sympathisch, aber auf die Dauer drückt so ein Zustand ganz schön auf die Fontanelle, will sagen Kronenchakra.
Wahrscheinlich gehen die anderen Fahrgäste deswegen so oft die Gänge auf und ab, einfach, um sich in Bewegung zu halten. – Ich mein, ganz im Ernst, wo wollten sie denn hin? – In die Bar vielleicht. Hm.
Immerhin, derartige Anfälle von Burnout-Depression wurden kürzer und die Abstände dazwischen länger und froher. Langsam, gaaanz langsam kam ich wirklich an und fing an, die Reise zu genießen. Zeit wird’s.
Ich las viel, bereitete meine Blog-Einträge vor, schaute aus dem Fenster und fischte allerhand Eindrücke mit meiner digitalen Angel, während die weiten Ebenen Russlands an mir vorüberzogen. Um Ekaterinburg war das Land, scheinbar über Tausende von Kilometern, einfach nur topfeben, durchzogen sumpfigen Birken- und Nadelwäldern, die knirschend im Tauwetter ihre Triebe reckten.
Nur ab und zu waren jene abgelegenen Gegenden gesprenkelt von kleinen Dörfern, die offenbar allein zu dem Zweck gegründet worden waren, die notwendigen Arbeitskräfte für die Myriaden von Sägewerken zur Verfügung zu stellen.
Einfache Holzhäuser bestimmten das Bild in der harschen Steppe, da jenes Material über die besten Dämmeigenschaften verfügt; nur vereinzelt fanden sich Häuser aus Stein. Manche davon waren halb verfallen und verfault, doch andere, geschmückt mit blauen Fensterläden, machten einen stattlichen Eindruck und wurden liebevoll gepflegt.
Nur wenige der Hauptverkehrsadern erschienen geteert, der Rest war gut gepflügter Schlamm. Wenn ich morgens aufwachte, bot sich mir exakt das gleiche Bild, nur um eine Zeitzone nach Osten verschoben: Flaches und nichts als flaches Land.
Russland – ist groß.
Da war Ekaterinburg an der Grenze zu Asien doch eine willkommene Abwechlsung. Die Stadt wurde gegründet, um die mannigfalten Bodenschätze des Urals möglichst raffgierig auszubeuten. Ich hätte mich durchaus noch eingehender damit befassen können, um was genau es sich dabei handelte, aber am Ende ist mir sowas auch einfach wieder wurschd.
Wieder einmal beeindruckte mich die lustvolle und verschwenderische Pracht und der Glanz eines einfachen Bahnhofs. Aber klar, die sitzen ja in dem Fall auch an der Quelle.
Die Stadt schien mir ganz nett, zwar keine Perle, aber schiach war sie jetzt auch nicht. Wir besuchten das Denkmal der letzten zaristischen Romanov-Exemplare, die an Ort und Stelle von den Kommunisten ermordet und liebevoll verscharrt worden waren, und statteten Vladimir einen Besuch ab.
Gut, aufgrund der schieren Anzahl seiner überaus munteren und ausgelassenen Abbilder lässt sich das auch kaum vermeiden. Wenn man sämtliche Lenin-Statuen einschmelzen und zusammenbacken wollte, so würde die daraus resultierende Masse derart viel Gravitationskraft entwickeln, dass mit Sicherheit alles in sich zusammenfiele und ein mittelgroßes Schwarzes Loch dabei herauskommen würde.
Also lassen wir sie hübsch über die ehemalige Sowjetunion verteilt liegen.
Wir ließen es uns richtig gut gehen in Ekaterinburg und vertilgten in einem bis zur Lächerlichkeit herausgeputzten und aufgematschelten Nobel-Restaurant ein Kotelett für umgerechnet fünf Euro. Mit free wifi, abartig. – Aber geil.
Nach einem kleinen Verdauungspaziergang trabten wir wieder zurück zum Bahnhof, da wir den eingeborenen Fahrplänen und unserem eigenen Zeitgefühl nun gar kein Vertrauen mehr entgegen bringen konnten und von etwaigen Angestellten bestenfalls widersprüchliche Auskünfte erhalten. Es galt das Gesetz der Wahrscheinlichkeit: je mehr Aussagen in dieselbe Richtung diffundierten, desto zuverlässiger war das Ergebnis.
Dieses Mal brauchten wir nur eine Stunde, um herauszufinden, dass wir unser Ticket von Ulan Ude nach Bator lediglich in Moskau hätten umtauschen können, da es sich in dem Fall um eine internationale Fahrt handelte. Wahrlich, da wusste die rechte Hand oft nicht einmal, was sie selber tat. Aber das war nicht so schlimm.
Zurück zu den Ebenen. Den Grenze zwischen Europa und Asien überquerten wir sozusagen im Schlaf, weil wir das Uralgebirge bei Nacht überschritten. Schade. Erst in der Gegend von Krasnojarsk wurde die Szenerie etwas interessanter, weil hügeliger und pittoresker.
Ich hatte in der Zwischenzeit den richtigen Rhythmus gefunden, um den Auslöser genau im richtigen Moment zwischen zwei Strommasten zu drücken, dass sie auf dem Foto nicht zu sehen waren, es sei denn, ich wollte es so.
Einmal schaffte ich es sogar, einen Fluss so zu abzulichten, ohne dabei auch nur ein Quantenteilchen der vorbei jagenden Brückenstreben zu erwischen!
Das muss mir erst einmal einer nachmachen. – In der Sportwissenschaft nennt man so etwas „Flow“ oder „Aufgehen im Handeln“.
Ich weiß, bei mir ist Hopfen und Malz verloren. Aber das ist nicht so schlimm.
Am letzten Abend unserer denkwürdigen Fahrt köpften wir endlich unsere Vodka-Vorräte. Wenn schon die Russen verweigern, saufen wir ihn halt eben selbst.
Und man muss ja nicht alle Vorurteile über Bord werfen.
Dann endlich, am allerletzten Tag, ein paar Stunden hinter Irkutsk, erhaschten wir also unseren ersten ehrfürchtigen Blick auf den grandiosen, und über weite Strecken noch immer zugefrorenen, Baikal-See, eingerahmt von bewaldeten Bergketten und Dörfern mit ihren immer süßer dreinblickenden Hütterln.
Und Schnee lag dort! Oidaaa, bist Du narrisch, würde der Wiener sagen.
Unser erstes großes Reiseziel bekam – einen Haken. So, was kommt als Nächstes?
Naa Schmarrn.
Nach vier Tagen (dreie davon am Stück) und sage und schreibe 5.600 Kilometern taumelten wir glücklich und etwas ungläubig auf den Bahnsteig von Ulan Ude.
Ich kam mir vor wie ein landkrank torkelnder Jack Sparrow auf einem Landungssteg, dem das sanfte Wiegenlied seiner geliebten Black Pearl ungemein fehlte.
Ob ich je wieder einschlafen kann ohne das sanfte Wiegenlied meines Waggons?
Auf der anderen Seite war ich froh, denn die ab und an recht abrupten Seitneigungen des Zuges bei Kurvenfahrten ließen die morgendliche Toilette mal schnell zu einer schweißtreibenden Yoga-Übung mutieren.
„Das Verwenden von Zahnseide kann mitunter schwerwiegende Verletzungen sowie ernsthafte innere Blutungen nach sich ziehen und sollte nur von erfahrenen Dentisten verordnet und ausgeführt werden.“
Und wie ich mich auf eine Dusche freute! Oh – mein – GOTT!
Das war definitiv – eine Erfahrung fürs Leben, wie man so schön sagt. Und selbst in unserer ausgenüchterten und verkaterten Zeit aus scheiternden Paradigmen bleibt eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn das, was sie schon immer gewesen ist:
eines der letzten großen Abenteuer unserer Welt.
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(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht