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Ungemütlich

Seltsam war das. Ähnlich wie zu Beginn meiner letzten Reise nach Nepal und Indienwurde ich von Zweifeln geplagt, ja, ich verfluchte mich geradewegs aufgrund meines leichtsinnigen Entschlusses, diesen Flug nach Bolivien zu buchen.

Immerhin waren Reisen nach Lateinamerika tendenziell und in dem Fall deutlich teurer als nach Asien, also wollte ich früh dran sein, um einen guten Deal zu erhaschen. Hat nicht funktioniert.

Fingers crossed

Bolivien. Was zur Hölle sollte ich da bloß? Wieso saß ich auf einmal in einem ungemütlichen Flieger und nicht mehr in meiner allzu gemütlichen Höhle am Münchner Goetheplatz? – Ein dunkles Omen, das sich nach meiner Ankunft in Santa Cruz (mit Layovers in Miami, nie wieder!, und der bolivianischen Hauptstadt La Paz) jäh bewahrheiten sollte.

Denn dort manifestierte sich eine meiner schlimmsten Reiseängste in kreischende Realität: mein Gepäck war nicht da.

Seltsam war das, dass mich das noch verhältnismäßig kalt ließ im ersten Moment. Vielleicht nur der Schock. Die Dame am zuständigen Schalter war sehr nett und erklärte mir, dass sie meinen Rucksack doch bestimmt finden und mir unverzüglich zu meinem eigentlichen Zielort schicken würden, fingers crossed.

Asap

Santa Cruz war zwar der Ort meiner Einreise und damit offizieller Beginn meines neuerlichen Abenteuers, doch ich wollte so schnell wie möglich mit dem Bus weiter nach Sucre, wo mein ehemaliger Arbeitskollege und geliebter Freund Mike sich selbständig gemacht und sein eigenes Hostel eröffnet hatte. Außerdem regnete es in Santa Cruz Katzen, wirklich, also nichts wie ab zum nächstbesten Busbahnhof!

Auf dem Weg dorthin fiel mir auf, was für noble und vergleichsweise moderne Automobile zu der Zeit dort in den Straßen herum kurvten, denn Bolivien galt zu der Zeit als eines der ärmsten Länder in Südamerika. Handelte es sich in Santa Cruz nur um einen verzerrten Mikrokosmos oder hatte sich in der Tat etwas in dem Land getan?

Verlassen

Der zweite Schock schlug mich im Handumdrehen, als ich feststellen musste, dass die jeweiligen Busse über Nummern verfügten, denen – und jetzt haltet Euch gut fest! – wahrhaftig eine Bedeutung zukam! – Äh?
Nein wahrlich, man konnte sich auf jene Schriftzeichen verlassen und sich an ihnen orientieren. Das kam mir also überaus verdächtig vor.

Auf einem Monitor durfte ich mir sogar aussuchen, welchen Sitzplatz ich haben wollte, wie außerordentlich! Theoretisch. Bis auf die Rückbank waren nämlich alle Plätze schon belegt, und die Fahrt sollte an die vierzehn Stunden dauern… DAMN!

Passabel

Aber scheiß drauf, ich wollte weiterkommen, und außerdem hatte ich doch eh kein Gepäck zum Verweilen. Zwar schwebte ich zu dem Zeitpunkt – wohl wieder der Schock – in einer Art gleichmütigen Scheißegal-Stimmung, aber ich wollte mir mithin eine sichere Blase für einen solch ungewohnten, unterschwellig zerrenden Umstand schaffen.

Aufgrund widriger Erfahrungen in der Vergangenheit hegte ich äußerste Bedenken über die anstehende Straßentortour, doch der Bus war geräumig, die Straße (vorerst) in passablem Zustand, und ich hatte wenigstens den Mittelplatz auf der Rückbank ergattert, so dass ich meine Beine ausstrecken konnte.

Radachsen

Ja, nicht nur das! Durch Zufall erlernte ich so eine neue Sitztechnik.
Denn die urgewaltigen Schläge, die beim Überfahren von Unebenheiten im Boden über die hintere Radachse nicht nur übertragen, sondern gleichsam exponentiell verstärkt zu werden schienen und gut und gerne imstande waren,
unachtsame Wirbelkörper zu zersplittern, ließen sich dadurch gut verhindern, indem ich mich so tief als möglich, quasi fast horizontal in den Sitz schmiegte.

Ich tauchte vollständig darin ein und siehe! Anstatt dass mir mein Unterkiefer ins Stammhirn gerammt wurde, erlebte ich eine fast angenehm wirkende Massage für mein gesamtes Körperskelett. Das war überaus erquicklich und kam mir vor allem am darauf folgenden Morgen zugute.

Plätschern

An diesem meinem zweiten Tag wurde ich sanft von einer wackeren und munteren Hopserei geweckt, und ich dachte mir: „Oh je, jetzt macht die Piste aber Ernst.“ Das war aber gar nicht der Fall, denn sobald ich einen Blick nach draußen warf, erkannte ich, dass es da gar keine Straße mehr gab.
Wir
bewegten uns stattdessen in einem Flussbett.

Aha. Gut, es war weitgehend trocken, doch einige Male durchquerten wir schon die plätschernde Flut. Abgesehen davon kamen wir eigentlich gut schaukelnd voran, bis auf einen schlimmen Platten, der jedoch schleunigst repariert worden war.

Finster

Es ist nur, als Rikschafahrer bricht mir immer der kalte Horrorschweiß aus, und ich werde von fasrigem Grauen gepackt, wenn ich dieses furchtbare Geräusch höre:
„Ftt-ftt-ftt-ftt-ftt…“

So wurden aus den veranschlagten vierzehn grob siebzehn Stunden, aber das fand ich gar nicht so schlecht, da hatte ich es schon schlimmer. Außerdem erreichten wir dergestalt erst nach Tagesanbruch die Stadt Sucre in den Vorgebirgen der mächtigen Anden. Das ist mir stets lieber, als wenn es draußen noch finster ist mit finsteren Gestalten und Zwielicht herrscht, man kennt sich nicht aus und so weiter.

Empor

Das manifestierte sich übrigens als Nachteil, dass ich den Mittelplatz inne gehabt hatte, denn zu beiden Seitenfenstern entfalteten sich herrliche Ausblicke auf die sich allmählich empor schwingende Berglandschaft mit dicht bewaldeten Tropenhängen und gewundenen Flusstälern.

Komm schon mein Lieber, schließe die Augen, atme tief durch und versuch, das nervöse und rastlose Zucken deines Kamerafingers zu unterdrücken. Lass… loosss…
Teh, a propos. Das war wirklich das einzige, was mich während der Fahrt wirklich gelangweilt hat, weil die fast nie Pause
gemacht haben.

Slang

Und ich musste so dringend zum Pinkeln! Einmal, ich schwöre, da war es fast soweit. Vor lauter Schmerzen watschelte ich in krummer Haltung zum Fahrer, da ich kurz davor stand, mir in meine einzige Hose zu pissen, und flehte und mahnte ihn an, er möge doch kurz anhalten, oder sonst.

Das war denen freilich scheißegal, die meinten, wir seien ja eh gleich da.
Bullshit! Diese infamen Lügen hatten mir doch meine Elter
n schon versucht, unterzuschieben. Aber so grün hinter den Ohren war ich nicht mehr, gell, weil, das sagen die immer!

Rechts ran

Zu dem Zeitpunkt standen mir ungelogen die Tränen in den Augen, und ich faselte irgend etwas wie „emergencia“ in meinem noch jungfräulichen und demgemäß holprigen Spanisch. Dabei wusste ich gar nicht, ob es den Ausdruck überhaupt gab, aber manchmal reicht es in der Tat, englische Vokabeln einfach auf spanischem Slang auszusprechen. Echt, das geht.

Ich bittelte und bettelte, bis sie endlich rechts ranfuhren und mich barsch, mit feurigem Hass in ihren seelenlosen Schweinsaugen dazu nach draußen winkten.
Aber das
muss wohl ein Naturgesetz bleiben, dass Busfahrer und deren Geschmeiß tendenziell eher Arschlöcher sind. Vielleicht gehört das einfach zur Berufsbeschreibung, wer weiß.

Doch abgesehen von solch kleinen, wenn auch zum Teil schmerzhaften Wermutstropfen fühlte ich mich zum ersten Mal seit meiner Abreise aus München glücklich, meine Lippen umspielte sogar ein vorsichtiges Lächeln. Nun war ich gespannt und aufgeregt, was mich denn so alles erwarten sollte in diesem Land.
Bueno, wo zur Hölle ist jetzt das „Gringo’s Rincon“?

Piste

Vorgebirge

Zur Hölle

Flussbett

Nie wieder

Ankunft

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Bitte umblättern: Das fliegende Gästezimmer…