Spieglein, Spieglein an der Hand…
Im Menschen, als zoologische Gruppe betrachtet, bestehen miteinander fort: die sexuelle Anziehungskraft und die Gesetze der Fortpflanzung, der Drang zum Lebenskampf und jedem Wettbewerb, das Nahrungsbedürfnis und die Lust am Fangen und Fressen, die Neugier des Schauens und das Vergnügen des Aufspürens, die Anziehungskraft, um miteinander zu leben… Jede dieser Fibern geht durch jeden von uns hindurch, kommt aus Tiefen unter uns und steigt auf zu Höhen über uns. Für jede von ihnen ließe sich eine (sehr wahrscheinliche) Geschichte der ganzen Entwicklung geben: Entwicklungsgeschichte der Liebe, des Krieges, der Forschung, des Gemeinschaftsgefühls. Doch jede, eben weil sie entwicklungsfähig ist, verwandelt sich, sobald sie in Bewußtheit übergeht. Durch neue Möglichkeiten, Färbungen und Fruchtbarkeiten bereichert, wählt sie von nun an einen anderen Weg. In einem gewissen Sinn dasselbe, aber doch auch etwas anderes. Die Gestalt, die sich wandelt, indem sie Raum und Dimension wechselt. Abermals die Diskontinuität in der Kontinuität. Die Mutation in der Evolution.
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Eben dieser große Sublimierungsprozess verdient im vollsten Sinn die Bezeichnung Menschwerdung. Die Menschwerdung, die zunächst sozusagen der individuelle, augenblickliche Sprung des Instinkts zum Denken ist. Doch die Menschwerdung ist in einem umfassenderen Sinn auch die stammesgeschichtliche, fortschreitende Vergeistigung aller im Animalischen enthaltenen Kräfte zu menschlicher Zivilisation. (…)
Von den verschwimmenden Umrissen der jugendlichen Erde an folgen wir unablässig dem Nacheinander der Stadien einer und derselben Begebenheit. Hinter den Pulsationen der Geochemie, der Geotektonik, der Geobiologie erkennt man immer wieder einen und denselben Grundvorgang: eben den, der sich in den ersten Zellen verkörperte und sich dann im Aufbau der Nevensysteme fortsetzte. Die Geogenese, sagten wir, geht in Biogenese über, die schließlich nichts anderes ist als Psychogenese.
Mit und in der Krise des Selbstbewußtseins vollzieht sich nichts weniger als das Sichtbarwerden des folgenden Gliedes der Reihe. Die Psychogenese hat uns bis zum Menschen geführt. Nun aber tritt sie zurück, denn eine höhere Funktion löst sie ab, oder absorbiert sie: zunächst die Geburtswehen und darüber hinaus alle Entwicklungsformen des Geistes – die Noogenese. Als sich der Instinkt eines Lebewesens zum erstenmal im Spiegel seines Selbst erblickte, machte die ganze Welt einen Schritt vorwärts.
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Nachdem wir uns in der Geschichte der Evolution die neue Ära einer Noogenese erkannten und herausstellten, müssen wir eine dem entsprechende Unterscheidung auch in dem majestätischen Gefüge tellurischer Schichten (Bary-, Litho-, Hydro- und Atmosphäre; Anm. d. Sammlers) treffen, um unserer Theorie eine angemessene Bestätigung zu geben. Wir stellen eine weitere Hülle fest. Rings um die Funken der ersten selbstbewußten Seelen das Anwachsen eines Feuerkreises. Der glühende Punkt hat sich erweitert. Das Feuer breitet sich immer mehr aus. Schließlich bedeckt die Glut den ganzen Planeten. (…) Ebenso ausgedehnt, doch, wie wir sehen werden, noch mehr kohärent als alle vorausgehenden Schichten, ist es wirklich eine neue Schicht, die ,denkende‘ Schicht, die sich seit ihrer ersten Blüte am Ende des Tertiärs oberhalb der Welt der Pflanzen und Tiere ausbreitet: außer und über der Biosphäre eine Noosphäre.
(…) Trotz der nur unbedeutenden anatomischen Umwandlung beginnt mit der Menschwerdung ein neues Zeitalter. Die Erde ,kleidet sich neu‘. Besser noch, sie findet ihre Seele.
(…) Unter den Stufen, die die Evolution nacheinander durchschritten hat, folgt die Geburt des Denkens im Range unmittelbar auf die Kondensation der chemischen Stoffe der Erde oder die Erscheinung des Lebens und ist in ihrer Bedeutung nur mit diesen vergleichbar. (…)
Auch scheint sie uns (diese Perspektive; Anm. d. Sammlers) maßlos, denn da wir selbst im Menschlichen schwimmen wie ein Fisch im Meer, haben wir Mühe, mit Hilfe des Geistes daraus aufzutauchen, um seine Eigenart und seine Weise abzuschätzen. Doch sehen wir uns nur ein wenig besser um: dieses plötzliche Überschwellen der Gehirnfunktion, dieser biologische Vorsturm eines neuen lebenden Typus, der nach und nach jede andere Lebensform als die menschliche ausscheidet oder sich dienstbar macht, diese unaufhaltbare Flut von Feldern und Fabriken, dieser ungeheure, immer höhere Bau von Materie und Ideen. Verkünden nicht alle diese Zeichen, die dir tagaus, tagein sehen, ohne zu versuchen, sie zu verstehen, daß sich auf der Erde etwas ,planetarisch‘ geändert hat?
(…) Und sogar im gegenwärtigen Augenblick wäre für einen Marsbewohner, der die siderischen Strahlungen ebenso nach der psychischen wie nach der physikalischen Seite zu analysieren vermöchte, das erste charakteristische Zeichen, unter dem ihm unser Planet erschiene, weder das Blau seiner Meere noch das Grün seiner Wälder – sondern sicher das Phosphoreszieren seiner Denkkraft.
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Das aufschlußreichste Moment im Ursprung dieser Noosphäre ist (…) die Feststellung, daß das ungeheure Ereignis ihrer Geburt sich, infolge einer universellen und langen Vorbereitung auf ganz unmerkliche Weise vollzogen hat. Ganz still ist der Mensch in die Welt eingetreten…
(P.T. de Chardin, „Der Mensch im Kosmos“)
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht