Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Schere, Nadel, Tupfer…
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Spaziergänge nach Osten, Süden, Norden oder Westen, ja wo sind denn nur die besten?
Kathedralen. Léon stylt sich auch als Stadt der Kirchen, und ich muss zumindest sagen, dass ein oder zwei der scheinheiligen Gotteshäuser hier wohlauf ansehnlich sind und mich beeindruckten, was man von den anderen Städten, die ich bis dahin in Zentralamerika besucht hatte, nicht gerade behaupten kann.
Vor allem die ockergelbe mit dem schnörkeligen Krimskrams an den Säulen, unterschiedlichen Abbildungen an der Fassade und der geschmackvollen Inneneinrichtung aus edlem, dunklem Holz gefiel mir sehr gut.
Aber auch der alte Herr, der sich in der Haustür stehend in aller Gemütsruhe den Bart rasierte, strahlte eine gewisse Anmut und Eleganz aus, fand ich.
Was weiß ich, da hing halt nun mal der Spiegel.
Es ist auch eine Stadt der Pferdefuhrwerke, zumindest im Ortskern, wo sich die meisten Herbergen verschanzten. Die armen Viecher, gesund und wohlgenährt sehen sie ja nicht gerade aus, aber ob es ihren Herren da so viel besser ergeht, diese Frage stellt sich durchaus, da Nicaragua noch immer eines der ärmsten Länder Amerikas darstellt.
Und dann müssen sie auch noch all den Lärm ertragen! Denn die Leute hier hupen im Vergleich zu ihren Nachbarn fleißiger und mit mehr Gusto. Und auch hier sind überall Fahrrad-Rikschas unterwegs, es war somit keine skurrile Grenzeigenheit wie zwischen Zimbabwe und Sambia. Sie werden hier ganz schlicht und unprätentiös „bicis“ genannt.
Mit Verlaub, hier ist so einiges anders als in den anderen Ländern meiner bisherigen Reise. Das machte sich bereits bemerkbar, als ich an meinem ersten Tag durch die teils recht hübschen Straßen schlenderte. Ich konnte den Unterschied deutlich spüren, das war nichts Subtiles oder Unterschwelliges.
Die Gesichtszüge und Physiognomien der alten Maya waren verschwunden, die Menschen in Léon wirkten irgendwie europäischer, auch ein Hauch von Cuba schien in der Luft zu schwirren: die Patina von vergangenem Glanz, der bröckelnde Zauber des einst Gewesenen. Als ich die Menschen dort näher betrachtete, so traf mich eine Welle aus Nostalgie, der Nachhall vielleicht eines jener zahlreichen verlorenen Träume von der großen Revolution…
Doch mischt sich darin auch eine Art stoischer Trotz, geboren und getragen von einem unerschütterlichen Stolz. Verbitterung zeichnete ihre teils grimmigen Mienen und ein daraus erblühender melancholischer Ernst, der mir das Herz rührte.
Die Art, wie sie mich „Chico“ nannten, hatte wiederum etwas leicht Herablassendes, doch Beschützendes, eine derbe Süßhaftigkeit, die heftig kollidierte mit dem schmerzhaften und desillusionierten Ausdruck der andauernden Depression in ihren Augen.
All das bestürzt und bewegt mich, erschüttert mich tief drinnen und ergreift etwas in mir, das ich bisher nur ansatzweise kannte und noch immer nicht zu benennen weiß. Wohl hängt es mit dieser ungebrochenen Schwermut zusammen, die wie ein ergreifend schöner Herbst über der Stadt hing, aber da war noch etwas anderes, etwas Formloses, verborgen in den Schatten.
Eine unbeschreibliche Atmosphäre herrschte in dieser Stadt, die mich bereits im ersten Straßenblock verzauberte und fort trug.
Die fantastischen und oftmals gesellschaftskritischen Murals in den Straßen spiegelten all das haarfein wider: den Verlust und den Kummer, aber auch den unumstößlichen Willen zum Kampf, zum Widerstand – zum allerletzten Gefecht.
…Ich atme schleppend. Eine zermürbende, lähmende und betäubende Hitze lastet auf den bratenden Ziegeldächern, es fällt mir schwer, auch nur länger als eine Stunde durch die Viertel zu gehen. Das Geräusch von plätscherndem Wasser in meinem Kopf, klar und frisch wie der Morgen, bringt mich um den Verstand.
Hier ist es nicht nur angenehmer, auf die schattigere Seite der Straße zu wechseln, es ist dringend überlebensnotwendig. Es ist wie durch ein Minenfeld zu laufen, nur dass man höllisch aufpassen muss, dass man eben dahin tritt, wo keine Minen sind.
Eine alte Dame macht das, wofür sich viele unserer jungen Dirndls oft zu fein sind: erhobenen Hauptes lässt sie sich von ihrem Enkel auf der Fahrradstange durch León kutschieren. Die mobilen Eisverkäufer klingeln eifrig, kaum zu glauben, dass das überhaupt vonnöten ist bei den Temperaturen.
Dazu das Klappern der Pferdehufe auf dem Asphalt und das scheinbar empörte Blöken der Rindviecher aus Stahl und Blech, dazwischen flinke und beinah geräuschlose Bicis, ein fragender Blick, der von einer lässigen Drehung der Handinnenseite himmelwärts unterstrichen wird:
„Nein danke, ich gehe wirklich gern zu Fuß, selbst in der Bruthitze des Tages. Keine Sorge, das ist ganz normal, ich bin Tourist und brauche keinen Arzt.“
Der Freifahrtschein und die Platin Membership-Card für die meisten Ungereimtheiten und grundvernünftigen Fantastereien des Menschseins.
Nach ein paar Tagen dann ein erneuter Anflug von generalisiertem Überdruss, einer grauen und ungerichteten Sinnwidrigkeit, es fühlt sich an wie ein Schlag in den Magen, der aus dem Nichts kommt. Ich fühle mich bedrückt und freudlos, das Rad also beginnt, sich erneut zu drehen.
Wie immer leiste ich zunächst Widerstand, doch dann lasse ich los, gebe den aussichtslosen und nie endenden Kampf bröckelnd und Schritt für Schritt auf, lasse die Energien und Ströme durch meinen Körper fließen – und allein durch die Bewegung geht es vorbei.
Sie fluten durch mich hindurch und aus mir hinaus, und ich werde von einem tiefen Gefühl des Friedens erfasst, als ob ich es durch jene vorangehende Woge aus entgegengesetzter Ladung erst richtig wahrnehmen könnte. So als ob ein Besen meine wirrwarrenden Gedanken hinwegfegt und mein Bewusstsein sauber spült.
Und so frage ich mich: Handelt es sich am Ende dabei gar um einen eingebauten Sicherheitsmechanismus meines Selbst, um in Zeiten der Krise das System neu zu starten? Gehört das eh so, war das im Handbuch von Anfang an so vorgesehen; und wusste ich nur nicht, dass es seit jeher ein Handbuch gab?
Oder kam dieser neuerliche Angriff tatsächlich von außen, scheinbar wahl- und ziellos, und konnte ich wieder einmal sehen, wie ich damit klar komme?
Hat sowas dann trotzdem einen Sinn, behalte ich etwas davon zurück oder gilt es einfach nur, derartige Zwischenfälle nicht aufzuhalten, sondern sich wie ein Surfer mit seinem Brett mental auf den Rücken zu drehen und drunter weg zu tauchen?
Sind wir tatsächlich nur Sender und Empfänger, Spiegel, Relay-Stationen und Feedback-Spulen dieses gigantischen Organismus des Kosmos, ein unsägliches, universales System der Kommunikation jenseits von Gut und Böse?
Oder sehe ich nur Gespenster und werde ernsthaft verrückt?
Ganz ehrlich, wenn man in Wirklichkeit keinen Plan hat und sein Leben größtenteils im Blindflug dahin wurschdelt, dann kann das ab und an ganz schön nerven.
Aber ganz ganz ehrlich: mittlerweile ist mir selbst das herzhaft wurschd.
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(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht