Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: „I follow the Moskva…“
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Der absolute Höhepunkt unseres kurzweiligen und humorgeladenen Aufenthaltes bei dem Couchsurfer-Pärchen in Russlands Hauptstadt erfolgte am letzten Abend. Senja beschrieb es als eine eher Rock- und Testosteron-lastige Geburtstagsparty auf dem Land mit viel Alkohol sowie tiefgreifenden Diskursen über Autos und Motorräder.
Das scheute mich jedoch nicht, denn das war ja praktisch wie daheim. Bevor wir also in das nördliche Moskauer Umland fuhren, kauften wir Unmengen an Whiskey und Brandy, ein paar Fleischberge sowie eine einsame, verschüchterte Flasche Vodka. (Das war wiederum unsere Idee gewesen, und man merke sich diesen Umstand.)
Als wir dort ankamen, konnten wir unser Glück kaum fassen. Denn gefeiert wurde in einer echten, richtigen Datscha, mitten in einem echten, richtigen Birkenwald!
Und das war selbstverständlich nicht die einzige.
Ganz Moskau war wie umzingelt von diesen süßen und teilweise etwas baufälligen Wochenendhäusern aus alter Tradition. Im Prinzip gestaltete sich das wie der monumentale Belagerungsring eines derangierten Kleingartenvereins mit unterdrückten Machtgelüsten, nur gab es da tatsächlich viel weniger unheimliche Freaks, und die Hütterl waren dafür größer.
Der gastgebende Jubilar präsentierte sich standesgemäß wie eine alkoholisierte Mischung aus Dennis Hopper in „Easy Rider“ und Marlon Brando. Er hatte mitbekommen, dass wir aus deutschsprachigen Ländern kommen, und so begrüßte er uns, breit grinsend, mit den Worten: „Hitlerr kaputt!“
Interessante Tatsache: die Party stieg, kein Scheiß, exakt am 20. April. Allerdings weiß ich nicht, ob ihm das so bewusst war. Jedenfalls brachen wir grade so, wie wir waren, vor Lachen zusammen.
Als wir ihm jedoch stolz unsere Dosen mit fertig gemischtem Gin Tonic unter die Nase hielten, verzog er nur halb gelangweilt, halb angewidert das Gesicht und schnaubte verächtlich: „Dis drrink forr little girrls.“
Sprich, er war im Fachjargon das, was man einen „Coolen Sack“ nennt.
Aber nicht nur er, sondern seine ganze Posse erschien uns von Anfang an grundsympathisch. Es wurde gegrillt, getrunken und gelacht – ordentlich gefeiert eben. Nur homophob durfte man dort nicht sein, denn die Burschen liebten es, sich gegenseitig zu massieren.
Vielleicht hatten sie sich mit Kultur angesteckt, die Armen.
Aber bis auf diesen eigentümlichen Umstand fühlte sich das für mich original so an wie vor Urzeiten auf einer Hüttenparty, irgendwo auf der sagenumwobenen Schwäbischen Alb: „Grundkurs Sozialisation 1.1 – Wenn es speit, so ist es ein Mensch“.
Je höher also der Alkohol-Pegel stieg, desto mehr gingen die Russen aus sich heraus – und an uns heran! Einer, mit einem besonders offensiven Ruf, zeigte mit aufrichtiger Eindringlichkeit, wie man eine Birke richtig anbohrt, um an ihren Saft zu gelangen, dem die Burschen fast schon magische Kräfte andichteten.
Das mag aber auch am Brandy-Cola gelegen haben.
Jedenfalls, Akku-Bohrer ansetzen, Zzzzzt!, Röhrle rein, Kanister drunter, fertig. Macht insgesamt und immerhin beachtliche fünf Liter pro Tag.
Sodann bedeutete er mir, mich unter das Röhrchen selbst zu legen und den Saft direkt aus dem Baum zu saugen, denn auf diese Art und Weise könne ich die Kraft und den Geist der Birke quasi online und ohne Quantensprünge in mich aufzunehmen.
…Stellt Euch nur mal das Bild vor!
Aber da haben wir’s. Diese ach so harten Rocker-Punker waren in Wirklichkeit alles verkappte Romantiker und Knuddelbären; same, same.
Außer vielleicht Hitlerr-Kaputt. Der hat auch am Tag nach der Party noch mit Brandy weiter gemacht.
Der Birkensaft schmeckte im übrigen fast wie Wasser, nur war er im Abgang leicht harzig und dickflüssiger in seiner Konsistenz.
Und das ist unsere Geschäftsidee:
Arnold und ich kaufen uns einen Birkenwald, zapfen das Zeug fässerweise ab und verkaufen es im großen Stil an leicht zu beeinflussende Öko-Fundamentalisten und hypochondrische Tree Hugger. Sechs Euro die Halbe, natürlich alles Bio, nachhaltig, probiotisch und abwischbar, und zack!, schon sind wir reich.
Und dann ab in die Karibik!
Ach Kinners, ich vermag es Euch nicht zu sagen, wie wunderwunderschön das war in der Datscha. Zum Ende hin fläzten wir auf breiten Sofas im Wohnzimmer, während Dima, ein Homie von der letzten Party, und noch ein Mädel auf der Gitarre bezaubernde russische Weisen vortrugen. Mit geschlossenen Augen (aus Angst vor dem bösen Karussell) wiegten wir uns sacht im Rhythmus ihrer melancholisch wogenden Gesänge.
Meine Freunde. Es sind eben solche Momente von reinem, unverfälschtem und ungetrübtem Glück, die in der Lage sind, sämtliche Mühsalen aufzuwiegen und vergessen zu machen. Genau deswegen bin ich hier, Mann!
Nicht wegen Lenin, nicht wegen roten Sternen, sondern genau darum.
Wegen diesen oft nur allzu kurzen Augenblicken, wo das Leben beinahe schmerzhaft wirklich wird, und die mir immer wieder aufs Neue zeigen, das man am Ende gar nicht so verschieden voneinander ist.
Dass es in Wirklichkeit gar keinen vernünftigen Grund gibt, Angst haben zu müssen vor dem Fremden, wie uns das all die Hetzer aus Vergangenheit und Gegenwart ständig vorgaukeln, und wenn das noch nicht reicht, mit Schlagstöcken in die Magengrube hämmern wollen. – Gell, Herr Stürzenberger? – Aber ich gesellschafte schon wieder, verzeiht.
Und jetzt kommt es! Die eeinzige Flasche, die dieses rauschende und ganz vorzügliche Fest ungeöffnet und in seiner unbefleckten Jungfräulichkeit überlebte, war – unser Vodka. Als Andenken an die europäischen Touristen mit ihren depperten Vorurteilen ließen wir sie als mahnendes Stillleben zurück.
Im Ernst, das hätten wir uns auch vorher denken können. Wir hätten es uns nach Senjas Beschreibung durchaus denken können, dass wir es dort naturgemäß mit alternativen und in Leder gebundenen Quergeistern zu tun haben werden.
Klar, dass die nur Jack Daniels oder Glenfiddich saufen! Aber dass sie derart militant und unnachgiebig unterwegs waren, das hat mich also schon erstaunt.
Am nächsten Tag taten wir überhaupt gar – nichts, außer uns im Garten vor der Datscha die Sonne auf den Pe- Bauch scheinen zu lassen und mit hervorragendem Gewissen zu faulenzen. Und noch mehr von dem saftigen Grillhühnchen zu essen.
Doch es kam, wie es immer kommen muss: am Abend verabschiedeten wir uns mit einem dicken Bear Hug von unseren neuen Freunden, weil wir ja noch den Zug nach Ekaterinburg erwischen wollten.
Wir hatten eeeigentlich auch schon ein Ticket, aber diese letzte Episode gab uns durchaus noch einmal Gelegenheit zu tiefschürfenden Sorgenfalten und ein wenig kaltem Angstschweiß, denn Murphy stattete uns ganz spontan einen Besuch ab.
Doch das ist wiederum eine andere Geschichte, meine lieben Freunde.
Aber wie geil! Stellt Euch das vor: am Ostersonntag in der Hängematte vor einer russischen Datscha zu chillen. Im T-Shirt!
Viel cooler kann es nicht werden, meine ich. – Und so waren wir also höchst zufrieden mit unserem einleitenden Städtetrip.
Moskau, Moskau… gar nicht mal so schiach, wie man sich das immer vorstellt.
Vielleicht war es das mal – und aufgrund seiner Erfahrung bestätigte Arnold auch jenes Urteil – aber es ist wohl tatsächlich so, dass seit dem Zusammenbruch des Sowjet-Regimes ihre alten, potthässlichen Bunker sukzessive abgerissen und immer mehr Teile der knuddeligen Altstadt wieder aufgebaut werden.
Zudem gibt es ja stets die würdige Moskva, die alles aussitzt oder -fließt, sowie die sieben, zwar einschüchternden und drückende Macht ausstrahlenden, aber trotz alledem sehr schönen Zuckerbäcker-Paläste, bei denen sich mein Gehirn noch immer tapfer weigert, sie mit einem Mann wie Josef Stalin zu verknüpfen.
Einfach san’s sicher ned, die Menschen, ge?
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Bitte umblättern: Ilias…
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht