Zu schnell? Einmal zurückblättern, sehr gern: Ilias…
———————————————–
Aber ach! Exakt fünf Minuten, nachdem wir freudestrahlend mit der bemitleidenswerten Dame im Office das Brot gebrochen und ihr demütig, doch leidenschaftlich unsere Kreditkarten überreicht hatten, traf, wie Thors Hammer, zunächst Arnold und dann mich selbst eine vernichtende Erkenntnis, und beide unsere Herzen brachen:
Denn während dieses ganzen Brimboriums hatten wir leider nicht bedacht, dass sämtliche Zeitangaben: auf Tickets, Anzeigetafeln, Bahnhofsuhren, und so weiter, in diesem sonderbaren Parallelreich der Russischen Bahn nach den Uhren in MOSKAU angegeben wurden und NICHT anhand der –intuitiv eingängigeren- örtlichen Zeitzone!
Und zwischen der russischen Hauptstadt und Irkutsk zum Beispiel sind es gut einmal fünf Stunden Zeitunterschied.
Noch so eine skurrile, kleine Eigenheit, vor der im übrigen selbst erfahrene Schalterbeamte und auch das Zugpersonal reihenweise kapitulieren: „Keine Ahnung, ob unser Bordrestaurant noch offen hat, wieviel Uhr ist es denn in Moskau?“
Kein – Scheiß. Ein Hoch auf den Zentralismus.
Als routinierte Reisende hatten wir uns natürlich vorab informiert, klare Sache.
Himmel, ich bin der Sohn einer praktisch denkenden Mutter, die mir zu Weihnachten selbstverständlich einen Transsib-Reiseführer geschenkt hatte, obwohl sie im Herzen nicht will, dass ich so einen Scheiß mach.
Nur hatten wir in unserer desolaten geistigen körperlichen Verfassung und in der Manie eines Momentes voller Vorfreude und Verheißung schlicht und zergreifend nicht daran gedacht. Ahahahaha. – Und wir so: NUUUAAAAAAEEEEIIINNN!!!!!!
Nochmal! Oder anders gesagt: neu planen und umbuchen.
Jesses, mir scheint, derartige Rechenleistungen erforderten doch fast die Kapazitäten vom gesamten Silicon Valley, verflucht! …Oder die von Deep Thought, wenn wir schon dabei sind.
Aber das muss ich der Firma wiederum hoch anrechnen: bis sechs Stunden vor Fahrtantritt bekam man im Falle einer Stornierung die gesamten Fahrtkosten erstattet (und danach immer noch die Hälfte)!
Wie gefällt Ihnen das, HERR Mehdorn? …Gibt’s den Pfosten eigentlich noch? Ja? Schade.
Nun, das war ja noch ganz lustig. Und außer ein bisschen Schweiß und Nervensubstanz hatten wir ja nichts verloren. Dachten wir. Aber wie ich an anderer Stelle bereits erwähnt habe, bekamen wir in Moskau auch noch Besuch von Murphy…
Oh je. Als wir also am Sonntagabend nach dieser wundervollen Datscha-Party gemütlich duschten und unser Zeugs packten, schaute sich Senja nur so aus Interesse und wie beiläufig unser Ticket nach Ekaterinburg an.
Und sagt mit einer sonderbaren Ruhe in der Stimme, so als ob er in jedem Moment einen Vulkanausbruch erwarten würde: „Guys. – Your train left 19 hours ago…“
Totenstille. Man hätte eine Sternschnuppe hören fallen können.
…Kein Scherz, ja? –- –- –- Die bleierne Schwere jenes Statements breitete sich langsam und genüsslich in unseren Köpfen aus wie ein blühender Atompilz im Frühling und hinterließ eine leblose, einsame Leere.
Nicht so Masha, die, unbeeindruckt von allen Sorgen und Nöten dieser Welt, bereits geschäftig auf ihrem Notebook herum hackte: „But guys, no problem! There is another train tonight and there are still free spots!“
Mein innerer Inquisiteur rieb sich jauchzend die Hände: „Setzen, Sechs!“
Aber irgendwo hatte er Recht: Noch ein zweites Mal mussten wir also komplett zurückspulen und alles auf Anfang setzen.
Das Apartment der beiden musste zu der Zeit gewirkt haben wie ein augewühlter Kriegsrat: Da wurden verschiedenste Möglichkeiten durchgespielt, hin und her ge- und verworfen, von allen möglichen und unmöglichen Blickwinkeln her beleuchtet, geschliffen und zerhobelt.
Ich erinnere noch einmal: Arnold und ich waren zu dem Zeitpunkt nicht gerade in geistiger Topform. Schlussendlich jedoch nahm ein Ersatzplan zögerlich Gestalt an, ätherisch, beinahe substanzlos. Ich wollte nicht allzu oft daran denken, so zart und zerbrechlich schien er mir:
Damit wir also durch die neuerlichen Änderungen nicht zu viel Zeit am Baikal-See verloren, wollten wir Krasjonarsk nunmehr auslassen und lediglich in Ekaterinburg einen kurzen Stop einlegen. Zudem hieß unser Ziel am See selber nun nicht mehr Irkutsk, sondern Ulan Ude, welches sich am anderen -und ruhigeren- Ufer befand.
Pff! Alle Welt fährt doch nach Irkutsk! Eigentlich gar nicht so tragisch.
Und an dieser Stelle nun offenbarte sich die formvollendete Schönheit und Größe des russischen Herzens: Obwohl sie zu Senjas Schwester zu einem piekfeinen Oster-Dinner eingeladen waren, begleiteten uns diese zwei ENGEL zum Bahnhof und halfen uns, zum zweiten Mal unsere Tickets umzubuchen, und kamen natürlich heillos zu spät zum Essen.
Drei Schalter, zwei Automaten (Im ersten war das Papier zum Drucken alle… Ich sag’s Euch, dieser irische Www- Schelm trieb es ganz schön bunt mit uns an dem Tag.) und weitere fünf Millionen Nervenzellen später hielten wir wirklich und wahrhaftig unsere endgültigen Fahrkarten in Händen und konnten darüber hinaus sogar noch an diesem unseren Schicksalstag losfahren!
Spätestens ab da liebte ich die beiden mit allem, was ich hatte.
Im Prinzip war das wie eine Geburt. Da sind es doch auch die Wehenschmerzen, die jenes unzertrennliche Band zwischen Mutter und Kind knüpfen.
…Eigentlich ist sie ganz schön pervers, die Liebe.
So auch der Zorn. Senjas Schwester war nämlich übelst schlecht gelaunt, weil: „Der Braten ist schon seit Stunden in der Röhre!“ – Also. Nicht der, das Schwein in dem Fall.
Als hätte dieser Umstand nicht schon vollends ausgereicht für unser picobello schlechtes Gewissen, konstatierten Masha und Senja in ihrer nie versiegenden Gastfreundschaft, dass es ja vollkommen sinnlos und überhaupt die allerletzte Sünde sei, uns zwei arme Esel vier Stunden am Bahnhof warten zu lassen, und packten uns, Klappe halten!, mitsamt drei Blumensträußen für die tobende Schwester ins Auto!
In dem Moment gingen bei mir wieder einmal sämtliche Lichter aus, dieses Mal vor Peinlichkeit und vor Scham. Mein Gehirn erstellte ein Katastrophen-Backup und ich verfiel in Stand-by. An dem Abend musste Arnold quatschen.
Das Essen war der Hammer! Wir, das heißt, die anderen unterhielten sich über die Krim, und was das alles nur bedeuten soll. Mein schlechtes Gewissen wurde sogar etwas gelindert, als ich erfuhr, dass Senjas Schwester für die Atomindustrie arbeitete.
So wurde zum Ende hin wirklich alles gut, und um halb ein Uhr nachts lagen wir, völlig geflasht, zermatscht und durch die Mangel gedreht, im offenen Liegewagen auf unseren Upper Bunks, auf dem Weg nach Ekaterinburg.
————————-
Bitte umblättern: Odyssee…
(N)Euer Senf – mittelscharf, wenn’s geht