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Misshandelt

Kaum eine Viertelstunde war vergangen, da wurden meine Füße so taub, dass ich das Gefühl hatte, sie wären kein Teil mehr von mir.

Das ist so, wie wenn man eine Nacht lang auf seinem Arm schläft und dann entsetzt aufwacht und meint, er sei für immerdar gelähmt; nur noch ein schwerer Sack Fleisch, der trotz der widerstreitenden Emotionen auf seltsame und beunruhigende Weise noch immer mit dem restlichen Körper verbunden scheint. Ganz schön gruslig.

Gusto

Da sagt der Herr Narong, ich solle trotzdem sitzen bleiben!
Es sollte mir praktisch EGAL sein, dass mir die Beine langsam absterben, während lediglich ein kleiner, misshandelter Rest aus Schmerzrezeptoren,
der den Grabenkrieg an meiner ganz persönlichen Somme überlebt hatte, in den Folterkammern meines Hirns weinend um Gnade flehte: „Hör doch bitte aaaauf!! Bist Du wahnsinnig??!!

Der hat gut reden mit seinem damischen, gleichmütigen Grinsen, der macht das ja ungelogen stundenlang, ohne mit dem Stirnchakra zu zucken.

Ablenkung

Der Gipfel war dann, als er gesagt hat, ich soll mich auch noch auf den Schmerz konzentrieren!
Sprich, wenn ich ins Feuer lang, darf ich die Hand entgegen aller guten Instinkte nicht einmal wegziehen, sondern mit Schmackes und Gusto in der Glut wühlen, hey geht’s noch?! Da war die Gehmeditation dazwischen die reinste Wohltat.

Und jetzt kommt aber das Verblüffende: der Schmerz verging tatsächlich, wenn ich mich ein paar Sekunden darauf fokussierte. Oder ich wurde von einem anderen Geräusch abgelenkt und der Schmerz trat sachte abebbend in den Hintergrund!
…Muss der selbstgerechte Kuttengrinser auch noch recht haben, der verreckte.

Phänomen

Abgelenkt“ ist eigentlich das falsche Wort: denn das ist der Witz bei dieser Form der Vipassana-Meditation. Die sagen nämlich, das menschliche Gehirn könne sich sowieso nicht über längere Zeit auf nur eine Sache konzentrieren.

Stattdessen soll man versuchen, sich auf jedwedes akustische oder visuelle Phänomen, egal ob innerhalb oder außerhalb des eigenen Körpers, zu konzentrieren, dieses sozusagen Teil der Meditation machen und dem unliebsamen Störfaktor dergestalt ein Schnippchen schlagen:

…das Zwitschern eines vorbei flatternden Vogels… das Plätschern eines Springbrunnens -aua- …das Rattern der Klimaanlage… mein Fuß hebt sich… das Schlurfen eines geheiligten Flip-Flops -aua- …mein Fuß senkt sich… das Knattern eines Mopeds… mein Fuß hebt sich -auauaua- …und immer so weiter bis zur Erlösung, in welcher Form auch immer.

Plätschern

Das heißt, immer wenn es keine nennenswerten äußeren Wahrnehmungen gibt, geht man zurück auf die eigene Bewegung oder im Falle sitzender Innenschau auf den eigenen Atem. Die wiederum hatte sich alle halbe Stunde mit der Gehmeditation abzuwechseln.

Blöd ist nur, wenn man abends im Freien übt und das Autan im Guest House vergessen hat. Gleichgültig zuzuschauen, wie einen die Moskitos langsam und genüsslich aussaugen, ist schon eher was für erfahrenere Gautamas, muss ich dazu sagen. Die haben vor der Malaria ja nur insofern Schiss, als dass sie sie etwa vor der Erleuchtung schon dahinrafft und dann die ganze Plackerei für die Katz war.

Auf und ab

Aber das Prinzip ist genial und macht komplett Sinn, denn ich muss sagen, mit der Konzentration hatte ich während meiner Yoga-Übungen schon des öfteren Probleme. Beglückt und auf’s Höchste angetan trippelte ich also durch die Gassen des Klosters, auf und ab, auf und ab.

Und siehe! Nach drei oder vier Tagen gewöhnte sich mein Körper sogar an das furchtbare Sitzen, so dass ich selbst jene Zeit der Meditation reeeelativ entspannt genießen konnte.

Emotionslos

Was natürlich schon wieder ein Fehler war. Denn ich sollte doch alle Phänomene vollkommen neutral und emotionslos betrachten, ohne zu urteilen, ohne zu unterscheiden. Selbst wenn positive oder negative Emotionen aufsteigen, sei es der Weg – NICHT das Ziel!, sie lediglich zu registrieren und vorbeiziehen zu lassen und sich dabei weder im Leiden noch im Glück zu ergehen.

Auf diese Art und Weise befreie man sich durch jahrelanges Üben von jeglicher Anhaftung und erblicke endlich das gelobte und unerklärliche Nirvana, sei man wiedervereint mit seiner angestammten Quelle, was natürlich von Anfang an NICHT das Ziel war.

Glätten

Aber soweit muss man ja nicht gehen. Ich für mich kann sagen, ich habe manchmal schon Bock auf Leiden – bis zu einem gewissen Grad natürlich.
Aber ich finde, genau für solche Momente in der dunklen Nacht der Seele ist jene Art der Geistesarbeit eine wundervolle Methode, die Wogen zu glätten und den springfreudigen Limbus im Zaum zu halten.

…Okay, das war jetzt a bisserl geposed: Gefühle halt. Vor allem zu überwältigende und ungesunde derartiger Regungen.
DAS war nämlich so unglaublich faszinierend und erwischte mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel: am höchst eigenen Körper zu erfahren, welche Macht doch der menschliche Geist über diesen haben kann.

Hybris

Man hört das ja oft, aber so richtig geglaubt hatte ich das nie. Bis zu jenem Tag.
Im weiteren Verlauf schaffte ich es, tatsächlich jedes Mal die dreißig Minuten durchzusitzen, und am letzten Tag durfte ich sogar auf 45 erhöhen.
Ja, in der Tat wähle ich entgegen meines eingehenden Laments bewusst und mit Absicht das Wort „dürfen”.

Tihi. In Wirklichkeit war ich bereits am Tag davor bereits so erstaunt und erfreut über meine neu erlernte Fähigkeit, dass ich in meiner Hybris schnurgerade über’s Ziel hinausschoss und selbsttätig auf die Dreiviertelstunde erhöhte.
Danach war mein Fuß eine gute Stunde lang taub, so dass ich ehrlich Angst hatte, das bleibt jetzt so für immer. Gott sei Dank nicht, herzlichen Dank, Lektion gelernt.

Seelenheil

Da scheint es freilich gar nicht mehr sooweit hergeholt, wenn man sich vorstellt, dass das manche Leute derart zur Perfektion bringen können, um sich für ganze zwei Wochen lebendig begraben und danach unverletzt und heil wieder ausbuddeln zu lassen. Die Frage dabei ist nur: will man das?

Dergestalt erlebte ich wirklich und täglich meine eigenen, vorsichtigen Mini-Erleuchtungen. Was ebenso wunderschön wie schwer zu beschreiben war.
Echt, probiert das aus, das fetzt voll. Temporäres Seelenheil zum Preis von verzogenen Rückenmuskeln und ein paar beleidigten Gelenken. Gar nicht so schlecht.

Rückblick

Als ich am letzten Tag schließlich nach meiner abschließenden Meditation meine Sachen packte, tat ich das nicht ohne Zögern. Fast schon wehmütig beschaute ich nochmals die baumbestandene Gasse und den netten Brunnenhof, wo ich so ausdauernd und beharrlich gegangen bin, ohne jemals irgendwo anzukommen.

Sogar meine alte Folterzelle erfüllte mich mit einem gewissen wohligen Schauern, was mich dann doch ein wenig entsetzte.
…Vielleicht ist das so was ähnliches wie das Stockholm-Syndrom. – Der Bangkok-Komplex oder so, …ja, das klingt nicht schlecht.

Draußen

Gleichzeitig bemächtigten sich meiner ein Glücksgefühl und eine Freude, wie ich sie lange, lange nicht mehr gekannt hatte: „Ich hab’s geschafft! Ich bin frei! Durchgestanden und Haken drunter. – Und ich SCHEISS drauf, ich werde mich von diesem Gefühl sicher nicht distanzieren, im Gegenteil, ich werde es – in vollen Atemzügen – durchleiden! BUyakka!!“

Ein bisschen hatte ich auch Angst vor der Welt da draußen. Doch ich nahm mir mein Herz und trat hinaus in einen sonnengeküssten Morgen…

Einher

…und der alltägliche Wahnsinn von Bangkok hatte mich wieder und umfing mich sanft. Selten zuvor war ich in der Lage, meine Umgebung so ungefärbt und frei von jedweden Gedanken wahrzunehmen:

…ein entspannt dahinzuckelndes Tuk-Tuk… die Stirn runzelnde Fußgänger beim vorsichtigen Überqueren einer geschäftigen Straße… zwei Menschen im händeflatternden Gespräch… ein Lächeln auf den Lippen – ein gelangweilter Polizist.

Denn Vipassana kann man überall und zu jeder Zeit üben.
Man sollte sich dabei nur nicht überfahren lassen.

Dann muss ich grinsen. Denn bald, HEUTE!, werde ich Tom und Carmen endlich wiedersehen.
…Da waren sie, der erste Gedanke und das erste Gefühl. Arm in Arm wie ein altes Ehepaar gehen sie einher. – Schön anzuschaun.

Überall

Zu jeder Zeit

Kleines Dorf

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